Das Ungeheuer
Dr. Ruddocks Büro auch einen ziemlich frohen Eindruck gemacht.«
Marsha drehte sich auf den Rücken. »Das war die unmittelbare Erleichterung darüber, daß sich nichts Offensichtliches ergeben hat - ein Hirntumor etwa.« Sie sah Victor wieder an. »Aber es gibt immer noch keine Erklärung für den dramatischen Abfall seiner Intelligenz.«
»Das ist sechseinhalb Jahre her.«
»Ich fürchte auch jetzt noch, der Prozeß könnte wieder einsetzen.«
»Wenn's dir Spaß macht«, sagte Victor.
»Victor! Was immer du da lesen magst - kannst du es vielleicht einmal für einen Augenblick beiseite legen und mit mir sprechen?«
Victor ließ das offene Heft fallen. »Ich spreche mit dir.«
»Danke!« sagte Marsha. »Selbstverständlich bin ich froh, daß die körperliche Untersuchung normale Befunde erbracht hat. Aber die psychologischen Untersuchungen haben es nicht getan. Die Befunde waren unerwartet und ein wenig widersprüchlich.« Sie berichtete, was sie entdeckt hatte, und endete mit VJs relativ hohem Resultat auf der Hysterienskala.
»VJ ist nicht emotional«, erklärte Victor.
»Eben!«
»Anscheinend sagen die Resultate mehr über psychologische Tests als über irgend etwas anderes. Wahrscheinlich stimmen sie nicht.«
»Im Gegenteil«, erklärte Marsha. »Diese Tests gelten als äußerst zuverlässig. Aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Leider verstärken sie lediglich mein Unbehagen. Ich kann nichts dafür; ich habe das Gefühl, daß etwas Schreckliches passieren wird.«
»Hör mal zu!« sagte Victor. »Ich habe das Blut von VJ mit ins Labor genommen. Ich lasse das Chromosom sechs isolieren. Wenn es sich nicht verändert hat, werde ich völlig zufrieden sein. Und du solltest es auch sein!« Er streckte die Hand aus, um ihren Schenkel zu tätscheln, aber sie zog das Bein weg. Er ließ die Hand auf das Bett fallen. »Wenn VJ leichte psychische Probleme hat - na, das ist doch etwas anderes; da können wir ihm eine Therapie verschaffen. Okay?« Er hätte sie gern weiter beruhigt, aber er wußte nicht, was er noch sagen sollte. Von den verschwundenen Dateien würde er jedenfalls nichts erwähnen.
Marsha holte tief Luft. »Okay! Ich werde versuchen, mich zu entspannen. Du erzählst mir, was die DNS-Untersuchung ergeben hat, wenn du sie gesehen hast?«
»Auf jeden Fall«, sagte Victor und lächelte sie an. Sie brachte ebenfalls ein Lächeln zustande.
Victor nahm seine Zeitschrift und versuchte zu lesen, aber die fehlenden Dateien ließen ihm keine Ruhe. Wieder fragte er sich, ob es möglich war, daß er sie gelöscht hatte. Ja, möglich war es. Da sie keine Querverbindungen enthielten, war es unwahrscheinlich, daß jemand anders alle drei gelöscht haben sollte.
»Hast du herausgefunden, was bei diesen armen Babys die Todesursache war?« fragte Marsha.
Victor ließ die Zeitschrift wieder sinken. »Noch nicht. Die Autopsien sind noch nicht fertig. Die mikroskopischen Untersuchungen müssen noch gemacht werden.«
»Könnte es Krebs gewesen sein?« fragte Marsha nervös; sie mußte daran denken, wie David krank geworden war. Das war auch ein Datum, das Marsha niemals vergessen würde: der 17. Juni 1984. David war zehn gewesen, VJ fünf. Seit mehreren Wochen waren Sommerferien gewesen, und Janice hatte vor, mit den Kindern nach Castle Beach zu fahren.
Marsha war in ihrem Arbeitszimmer und packte ihre Sachen für die Praxis zusammen, als David in der Tür erschien. Seine dünnen Arme hingen schlaff herunter.
»Mommy, irgendwas stimmt nicht mit mir«, sagte er.
Marsha blickte nicht gleich auf; sie suchte nach einer Akte, die sie am Tag zuvor mit nach Hause gebracht hatte.
»Was ist denn los?« fragte sie, schloß eine Schublade und zog eine andere auf. Als David am Abend zuvor schlafen gegangen war, hatte er über Magenbeschwerden geklagt, aber Pepto-Bismol hatte ihm Linderung verschafft.
»Ich sehe nicht gut aus«, behauptete David.
»Ich finde, du bist ein hübscher Junge«, erklärte Marsha und wandte sich suchend den Regalen hinter ihrem Schreibtisch zu.
»Aber ich werde ganz gelb«, stellte David fest.
Marsha hielt inne und drehte sich nach ihrem Sohn um.
Der kam zu ihr gelaufen und verbarg das Gesicht an ihrem Busen. Er war ein zärtliches Kind.
»Wie kommst du darauf, daß du gelb wirst?« fragte sie und spürte die ersten Regungen der Angst. »Zeig mir mal dein Gesicht!« Behutsam drückte sie den Jungen von sich. Hoffentlich täuschte er sich, und es gab irgendeine
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