Das Ungeheuer
hing schwer in der Luft.
Der Mörder mußte gerade erst verschwunden sein, denn das Blut quoll noch aus den Wunden. Neben Gephardt lag eine ungefähr gleichaltrige Frau, vermutlich seine Ehefrau; die anderen waren ein älteres Paar und drei Kinder. Das jüngste war schätzungsweise fünf. Gephardt war so oft getroffen worden, daß seine Schädeldecke nicht mehr da war.
Victor richtete sich auf, nachdem er den letzten Leichnam auf ein Lebenszeichen untersucht hatte. Mit weichen Knien und etwas benommen ging er zum Telefon; er überlegte, ob er irgend etwas anfassen durfte. Er sparte sich die Mühe, einen Krankenwagen zu bestellen, und rief gleich die Polizei an. Ein Wagen werde in Kürze da sein, sagte man ihm.
Victor beschloß, im Auto zu warten. Er fürchtete, daß ihm schlecht werden könnte, wenn er sich noch länger im Haus aufhielte.
»Wir werden eine Weile hierbleiben müssen«, rief er, als er sich hinter das Lenkrad schob. Er drehte das Radio leiser. Das Bild der sieben Toten hatte sich in seine Gedanken geätzt. »Im Haus gibt es Unannehmlichkeiten; aber die Polizei ist unterwegs.«
»Wie lange wird's dauern?« fragte VJ.
»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht eine Stunde.«
»Kommen auch Feuerwehrautos?« fragte Philip eifrig.
Die Polizei erschien in eindrucksvoller Stärke: vier Streifenwagen, vermutlich die gesamte Flotte des Lawrence Police Department. Victor ging nicht mit hinein, sondern wartete auf der Treppe vor der Haustür. Nach etwa einer halben Stunde kam einer der Polizisten in Zivil wieder heraus.
»Ich bin Lieutenant Marc Scudder«, sagte er. »Ihren Namen und Ihre Anschrift haben wir schon, nehme ich an?«
Victor bejahte.
»Böse Sache«, meinte Scudder. Er zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz auf den Rasen. »Sieht aus wie 'ne Vendetta im Rauschgiftgeschäft - so was erwartet man südlich von Boston, aber nicht hier oben.«
»Haben Sie denn Rauschgift gefunden?« fragte Victor.
»Noch nicht.« Scudder nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. »Aber ein Verbrechen aus Leidenschaft ist das hier sicher nicht. Nicht bei der Artillerie, die sie benutzt haben. Müssen zwei oder drei Leute gewesen sein , die da drin geschossen haben.«
»Brauchen Sie mich hier noch länger?« fragte Victor.
Scudder schüttelte den Kopf. »Wenn wir Ihren Namen und Ihre Telefonnummer haben, können Sie gehen.«
So aufgebracht, wie sie war, konnte Marsha sich kaum auf ihre Nachmittagspatienten konzentrieren; es erforderte ihre ganze Selbstbeherrschung, bei der letzten, einer narzißtischen Zwanzigjährigen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, wenigstens den Anschein des Interesses aufrechtzuerhalten. Kaum war das Mädchen fort, griff Marsha nach ihrer Handtasche und ging hinaus zum Auto; ausnahmsweise mußte die Korrespondenz bis zum nächsten Tag warten.
Auf dem Heimweg dachte sie immer wieder an ihre Unterredung mit Remington. Entweder hatte Victor gelogen, was die Zeit anging, die VJ im Labor verbrachte, oder VJ fälschte seine Entschuldigungen. Beide Möglichkeiten waren gleichermaßen bestürzend, und Marsha erkannte, daß sie ihre Gefühle, was Victor und sein gewissenloses Experiment betraf, nicht annähernd würde verarbeiten können, solange sie nicht wußte, wieviel Schaden VJ wirklich genommen hatte. Die Entdeckung seiner Schulschwänzerei verstärkte nur ihre Sorgen; es war ein so klassisches Symptom für eine Verhaltensstörung, die zu einer antisozialen Persönlichkeitsstruktur führen konnte.
Marsha bog in die Zufahrt ein und beschleunigte auf der leichten Steigung noch einmal. Es war fast dunkel, und sie hatte die Scheinwerfer eingeschaltet. Sie fuhr ums Haus herum und wollte nach dem automatischen Türöffner greifen, als das Scheinwerferlicht etwas an der Garagentür erfaßte. Was es war, konnte sie nicht erkennen, und als sie vor der Garage anhielt, spiegelten sich die Scheinwerfer in der weißen Türfläche und blendeten sie. Marsha hob die Hand vor die Augen, stieg aus und ging um den Wagen herum. Blinzelnd schaute sie zu dem Gegenstand hinauf; er sah aus wie ein Lumpenknäuel.
»O mein Gott!« schrie sie, als sie erkannte, was es war. Sie würgte aufsteigende Übelkeit herunter und wagte einen zweiten Blick. Die Katze war stranguliert und wie zur Kreuzigung an das Garagentor genagelt worden.
Sie versuchte, nicht auf die vorquellenden Augen und die heraushängende Zunge zu schauen, und las, was auf dem Zettel am Schwanz stand: B RING DIE S ACHE
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