Das Ungeheuer
von seiner Entscheidung gesagt habe, VJ so oft die Schule versäumen zu lassen.
»Aber ich habe nie entschieden, daß VJ die Schule versäumen darf«, antwortete Victor.
»Hast du nicht mehrmals Entschuldigungen für VJ geschrieben, weil er im Labor statt in der Schule war?«
»Selbstverständlich nicht.«
»Das hatte ich befürchtet«, sagte Marsha. »Ich glaube, wir haben hier ein ernstes Problem. Solche Schulschwänzerei ist ein schwerwiegendes Symptom.«
»Ich hatte zwar den Eindruck, daß er oft in der Firma war, aber als ich ihn einmal fragte, sagte er, die Schule habe ihn hergeschickt, damit er praktische Erfahrungen sammle. Und solange seine Noten gut waren, ist es mir nicht in den Sinn gekommen, ihn weiter zu befragen.«
»Pauline Spaulding hat mir auch erzählt, daß er die meiste Zeit im Labor ist«, sagte Marsha. »Zumindest nach seinem Intelligenzverlust.«
»VJ hat immer viel Zeit im Labor verbracht«, gab Victor zu.
»Was tut er denn da?« wollte Marsha wissen.
»So mancherlei«, sagte Victor. »Angefangen hat er mit fundamentalen Chemie-Experimenten; er benutzt die Mikroskope, spielt Computerspiele, die ich ihm besorgt habe. Ich weiß es nicht. Er treibt sich da herum. Jeder kennt ihn. Er ist beliebt. Und er hat es immer verstanden, sich allein zu unterhalten.«
Die Türglocke läutete; Marsha und Victor gingen beide in den Flur hinaus und ließen die Polizei von North Andover herein.
»Sergeant Cerullo«, sagte ein großer uniformierter Beamter. Seine zierlichen Gesichtszüge lagen allesamt dicht zusammengedrängt in der Mitte seines pausbackigen Gesichts. »Das hier ist Patrolman Hood.« Er deutete auf den zweiten Uniformierten, der hinter ihm stand. »Tut mir leid, die Sache mit Ihrer Katze. Wir haben uns bemüht, Ihr Haus im Auge zu behalten, nachdem Widdicomb hier war, aber es ist schwierig, weil es ja so weit abseits der Straße liegt und so weiter.«
Sergeant Cerullo zog Block und Bleistift hervor, wie es auch Widdicomb am Dienstag abend getan hatte. Victor führte die beiden durch die Hintertür hinaus zur Garage. Hood machte ein paar Fotos von Kissa, und dann suchten die beiden Polizisten die Umgebung ab. Victor war dankbar, als Hood sich erbot, das Tier herunterzunehmen, und sogar mithalf, am Rande einer Birkengruppe ein Grab auszuheben.
Auf dem Weg ins Haus fragte Victor, ob die beiden jemanden wüßten, den er mit der Bewachung seines Hauses betrauen könnte. Sie nannten ihm zwei Firmen in der Stadt.
»Da wir gerade von Namen sprechen«, fuhr Sergeant Cerullo fort, »haben Sie eine Ahnung, wer so was mit Ihrer Katze angestellt haben könnte?«
»Da fallen mir zwei Leute ein«, sagte Victor. »Sharon Carver und William Hurst.«
Cerullo notierte sich die Namen. Gephardt erwähnte Victor nicht, und auch nicht Ronald Beekman. Es war ausgeschlossen, daß Ronald so tief sinken könnte.
Als er die Polizisten verabschiedet hatte, rief Victor die beiden Firmen an, die sie ihm empfohlen hatten. Sie hatten offenbar Feierabend, denn bei beiden meldete sich der Anrufbeantworter. Er hinterließ seinen Namen und seine Nummer in der Firma.
»Ich möchte, daß wir zusammen ein Wörtchen mit VJ reden«, sagte Marsha.
Victor erkannte an ihrem Tonfall, daß sie sich davon nicht würde abbringen lassen. Er nickte nur und folgte ihr die Hintertreppe hinauf. VJs Tür stand offen; sie traten ein, ohne anzuklopfen.
VJ klappte sein Briefmarkenalbum zu und schob das schwere Buch in das Regal über seinem Schreibtisch.
Marsha betrachtete ihren Sohn. Erwartungsvoll, beinahe schuldbewußt, schaute er zu ihnen auf, als hätten sie ihn bei einer Ungezogenheit ertappt. Um die Beschäftigung mit einem Briefmarkenalbum konnte es dabei kaum gehen.
»Wir möchten mit dir sprechen«, sagte Marsha.
»Okay! Worüber?«
Plötzlich, fand Marsha, sah er aus wie das zehnjährige Kind, das er war. Er sah so verletzlich aus, daß sie sich beherrschen mußte, um sich nicht zu ihm zu beugen und ihn in die Arme zu nehmen. Aber jetzt war Strenge gefordert. »Ich war heute in der Pendieton Academy und habe dort mit dem Schulleiter gesprochen. Er sagt, du hast Entschuldigungsschreiben von deinem Vater vorgelegt, wenn du nicht in der Schule warst, sondern deine Zeit bei Chimera verbracht hast. Ist das wahr?«
Aus professioneller Erfahrung rechnete Marsha damit, daß VJ den Vorwurf zunächst abstreiten und- wenn sich das als erfolglos erwiese - irgendeine früherwachsene Verantwortungsvorwegnahme versuchen werde. Aber
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