Das Urteil
Schuhe mit flachen Absätzen, fleischfarbene Strumpfhosen und ein elegantes, matt korallenrotes Kleid, dessen Saum drei Zentimeter über den äußerst attraktiven Knien endete. Freeman hatte dafür gesorgt, daß eine Friseuse ins Gefängnis kam und Jennifer die Haare schnitt, und jetzt schimmerte ihr Haar sauber, blond und war gerade lang genug, daß es feminin und akkurat aussah. Diamantbesetzte Ohrringe. Ein geschmackvoller Hauch von Make-up. Man führte Jennifer herein, bevor die Richterin den Saal betrat, zeitgleich mit den Pressevertretern und den achtzig potentiellen Geschworenen, die soeben ihre Plätze hinter der Holzbarriere einnahmen. Hardy, der sich mit Freeman am Tisch der Verteidigung in der linken Hälfte des Gerichtssaals unterhalten hatte, hörte den Tumult bei den Zuschauern und sah auf, brach mitten im Satz ab. »Du meine Güte«, sagte er.
Freeman wandte sich halb um. Ein paar Blitzlichter flammten auf - Villars würde dem ein Ende setzen, sobald sie hereinkam, aber vorerst war Jennifer Freiwild. Sie lächelte ihr zweideutiges Lächeln - schüchtern oder posierend -, und noch mehr Blitzlichter flammten auf.
Die Wachtmeister brachten Jennifer zu Freeman, der ihr wie ein besorgter Onkel den Arm um die Hüfte legte und sie zu dem Stuhl zwischen sich und Hardy geleitete. »Sie sehen prima aus«, sagte Freeman zu ihr. »Genau richtig.«
»Ich habe Angst«, erwiderte Jennifer.
Freeman strich ihr mit der Hand über den Rücken. »Das ist schon in Ordnung, ist völlig natürlich. Setzen sie sich einfach hin, und entspannen Sie sich.«
Hardy bemerkte, daß Jennifers Hände zitterten. Sie verschränkte die Finger ganz eng und legte die Hände zusammengefaltet vor sich auf den Tisch. Freeman stellte sich zu ihrer Rechten auf und deckte seine knorrige Pfote über ihre Hände.
Im Lauf der vergangenen Wochen hatte Hardy zugeschen, wie bei der gemeinsamen Arbeit an der Konzeption einer Verteidigung die frühere Feindseligkeit zwischen Anwalt und Mandantin verflog. Jetzt hatte Freeman sie - obwohl er allem Anschein nach noch immer glaubte, daß Jennifer log, wenn sie ihre Unschuld beteuerte -, irgendwie davon überzeugt, daß er ihr bester und vertrautester Freund sei - er höchstpersönlich sei ihre einzige Rettung. Folgerichtig klammerte sie sich mittlerweile an ihn, an ihre Rettungsinsel im stürmischen Ozean. Das war Hardy nur recht, der ja nach wie vor vielleicht eine eigene Rolle zu spielen hatte, und zwar nicht als Mittler zwischen Jennifer und David Freeman.
Es war 9:23 Uhr. Villars würde in sieben Minuten den Saal betreten. Dean Powell und sein Stellvertreter, ein junger Assistent District Attorney namens Justin Morehouse, besprachen sich soeben und sahen diverse Papiere auf ihrem Tisch rund vier Meter rechts von Hardys durch.
»Jennifer.«
Dr. Ken Lightner war zur Barriere vorspaziert, und Jennifer drehte sich in ihrem Stuhl um, stand dann auf und schlang die Arme um ihn. Einer der Wachtmeister war sofort zur Stelle, aber Freeman streckte die Hand vor und verhinderte, daß der Mann zwischen die beiden trat. Das Ganze war sowieso nach wenigen Sekunden vorbei, als Jennifer sich zurückzog und Dr. Lightner auf die Wange küßte.
Hardy machte sich im Geiste eine Notiz - Freeman wahrscheinlich ebenso -, Jennifer vor solchen Umarmungen in der Öffentlichkeit zu warnen. Sie konnten nur zu leicht mißverstanden werden. Sowohl er wie Freeman wußten, welche Verbindung zwischen Jennifer und Lightner bestand, aber es würde schwierig sein, sie den Geschworenen zu erklären. Frau, der man den Mord an zwei Ehemännern vorwirft, umarmt zu Beginn ihres Prozesses einen anderen Mann. Nein, das sähe nicht gut aus.
Jennifer, Freeman und Lightner steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander neben der Barriere, die die Zuschauer vom Gericht trennte. Walter Terrell war aufgetaucht und wechselte soeben ein paar Worte mit Powell und Morehouse.
Obwohl er keine aktive Rolle in diesem Teil des Prozesses übernehmen würde, war Hardys Mund trocken, sein Magen unruhig und übersäuert. Er drehte sich in seinem Stuhl um und wollte sich gerade ein Glas Wasser eingießen, als er sah, Wie die Tür hinter dem erhöhten Tisch der Richterin aufging und der Protokollführer alle Anwesenden aufforderte, sich zu erheben, die Kammer 25 des Superior Court der Stadt und des County San Francisco tage nun unter dem Vorsitz der Richterin Joan Villars.
Das Konzept des voir dire - der Befragung und Auswahl der Geschworenen
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