Das Urteil
Sah die Geschworene Nummer 5 so aus, als ob sie Mitgefühl für Jennifer empfand? Würde der junge Schönling, Nummer 11, Jennifer eine neue Chance geben wollen, weil sie so gut aussah, oder würde er sich mit Larry Witt identifizieren, einem Mann, der schwer arbeitete und einfach die falsche Frau abbekommen hatte? Was war mit dem Mauerblümchen, Nummer 9? War sie womöglich neidisch auf Jennifers Aussehen, oder würde sie sie vielleicht als irregeleitete Schwester betrachten, die man verleumdet und zu Unrecht angeklagt hatte?
Keiner der ersten zwölf überstand die anfängliche Fragerunde. Zwölf zusätzliche Kandidaten wurden aufgerufen. Bis zum 27. September hatten sich zweiundneunzig Leute gefunden, die geeignet waren, als Geschworene zu fungieren. Alle übrigen waren »aus gutem Grunde«, also wegen unzumutbarer Belastungen oder aufgrund von Vorurteilen, die sich im Verlauf der Anfangsbefragung herausgestellt hatten, entschuldigt worden. Erst jetzt machten Vertreter der Anklage sowie der Verteidigung Gebrauch von ihrem Recht auf Ablehnung. Powell lehnte elf Kandidaten ab. Freeman alle zwanzig, die er ablehnen durfte. Dann wurden sechs Nachrücker ausgewählt.
28
Die sechs Wochen der Geschworenenauswahl waren für Hardy wie im Nebel vergangen. San Francisco hatte Anfang Septem ber die ihm zugebilligten zwei Wochen warmes Wetter genießen dürfen, und an jedem Werktag hatten Hardy, Freeman und Jennifer an ihrem Tisch gesessen, Powell und dessen junger Assistent Morehouse ein Stück weiter rechts, und hatten dieselbe wichtige Pflichtübung wieder und wieder durchgekaut.
Es war eine zermürbende, am Detail klebende Arbeit, die emotional und körperlich auslaugte. Hardy wurde im Gerichtssaal gebraucht. Alles, was er sonst weiterverfolgen könnte - die »anderen Typen« beispielsweise -, mußte auf die lange Bank geschoben werden. Abend für Abend saßen Hardy und Freeman, nachdem sie den Justizpalast verlassen hatten, zusammen und debattierten über mögliche Geschworene und Strategien, bis sie zu lallen anfingen, und dann ging das Ganze am nächsten Tag wieder von vorne los.
Zu Hause hielt Frannie die Stellung. Ihr Mann kam spät heim, ging früh wieder fort, war zerstreut, wenn er anwesend war. An zwei der Wochenenden unternahmen sie einen Ausflug - einmal ohne die Kinder auf eine Hütte in den Wäldern beim Lake Tahoe. Sie kamen zu dem Schluß, daß sie diese Sache durchstehen und eines Tages wieder ein richtiges Leben führen würden.
Jetzt schrieb man Montag, den 4. Oktober, sämtliche Mitspieler waren versammelt, der Zuschauerraum war voll, und Dean Powell stand schließlich auf, bereit, um endlich loszulegen. Hardy dachte bei sich, daß der Kontrast zwischen Powell und David Freeman nicht größer sein könnte. Powell strahlte Autorität und Persönlichkeit aus. Er trug einen gutgeschnittenen dunklen Anzug mit einer blauen Krawatte - keinerlei Notwendigkeit, den eigenen Rang durch die Farbe Rot oder Nadelstreifen zu unterstreichen. Auf dem Gesicht mit den klaren Konturen, kantig und gebräunt, zeigte sich der Ausdruck freundlicher Anteilnahme. Gelegentlich fuhr er sich mit der Hand durch die Mähne des weißen Kopfhaares, weiteres Kämmen war gar nicht nötig.
In der Mitte des Gerichtssaals drehte er sich um und blickte die Jury an, die im Laufe der letzten Wochen ernannt worden war. »Euer Ehren, Mr. Freeman, Mr. Hardy, meine Damen und Herren von der Jury. Ich möchte Ihnen allen dafür danken, daß Sie Ihre wertvolle Zeit für diese wichtigste aller Bürgerpflichten opfern. Wir alle« - Powell schloß den Tisch der Verteidigung mit einer weit ausgreifenden Geste mit ein - »sind Ihnen dankbar dafür.«
Freeman und Hardy tauschten einen Blick. Beide wußten sie, daß die Verteidigung mit Fug und Recht Einspruch gegen diese kleine Bauchpinselei der Jury durch den Staatsanwalt erheben konnte. Eine derartige Begrüßung war eigentlich der Richterin vorbehalten, aber viele Vertreter sowohl der Anklage wie der Verteidigung unternahmen öfter den Versuch vorzuführen, was für nette Leute sie in Wirklichkeit unter dem Anwaltskostüm waren. Freeman hatte daher nicht vor, Einspruch zu erheben - die Jury würde es als schäbig empfinden.
Die meisten Richter ließen den Begrüßungszirkus einige Zeit durchgehen. Villars nicht. Ihr Hammer knallte auf den Tisch. »Mr. Powell, ich habe die Jury bereits begrüßt und mich bei ihr für die zur Verfügung gestellte Zeit bedankt. Dies ist Ihr Eröffnungsplädoyer.
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