Das Urteil
zu gießen an.
»Was ist los?« japste sie. »Sehen Sie denn nicht, daß ich laufen möchte?« Hardy machte einen Schritt auf sie zu, und sie legte die Hand an die Hüfte. »Ich hab eine Spraydose mit Tränengas dabei und werde sie auch benutzen.«
»Ich muß Sie etwas fragen.«
Ein Auto, das ihnen entgegenkam, fuhr etwas langsamer, um nachzusehen, gab dann Gas und fuhr weiter.
»Eine Frage?* Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Mein Gott, was für eine Stadt.«
»Es könnte einer Frau das Leben retten.«
»Aber klar doch.« Sie sah wieder auf ihre Armbanduhr. »Wer zum Teufel sind Sie? Lassen Sie mich in Ruhe.«
Hardy wünschte sich, er könnte den alten Trick mit der Polizeimarke bringen, aber er hatte sie nicht immer dabei. Die Marke lag zu Hause für den Fall, daß er beschloß, er könne sie gebrauchen.
»Ich laufe jetzt an Ihnen vorbei«, sagte die Frau. »Lassen Sie mir lieber genügend Platz.« Sie hielt jetzt etwas in der Hand, das wie eine Sprühdose aussah, und Hardy hatte keinen Zweifel, daß sie das Zeug benützen würde.
Er mußte schnell weiterreden, einen Ansatzpunkt finden. Sie kam vorsichtig auf ihn zu. »Haben Sie je den Namen Jennifer Witt gehört? Ich bin ihr Anwalt.«
»Prima, gratuliere. Ich bin eine Joggerin.«
Sie zischte los, rannte auf der anderen Seite seines Autos vorbei. Sie schaute sich nicht um, als sie die Straße hinunterjagte, herum um eine Ecke und außer Sicht.
Als er wieder im Auto saß, tröstete sich Hardy, daß das Ganze wahrscheinlich sowieso ein Schuß in den Ofen gewesen war. Doch dann, drei Querstraßen weiter, begriff er, was er in Wahrheit soeben getan hatte - er hatte den Eindruck, er sei vielleicht unversehens auf einen Funken Wahrheit in einer der Erklärungen gestoßen, die Jennifer vorgebracht hatte -, also hatte er sie doch noch nicht abgeschrieben.
Jennifer hatte gesagt, daß sie immer erst ein paar Querstraßen weit zu Fuß ging, wenn sie zum Joggen das Haus verließ. Sie bestand darauf, daß sie es immer so hielt und auch am Morgen des 28. Dezember so gehalten hatte. Und irgend jemand sonst, der ihr ähnlich sah, kam just in dem Moment an ihrem Haus vorbeigelaufen, als die Schüsse fielen. Diese Person blieb stehen, sah nichts und lief weiter, startete genau vor Jennifers Gartentür. Und wurde von Anthony Alvarez, dem wichtigsten Augenzeugen der Staatsanwaltschaft, als Jennifer identifiziert.
Er schöpfte beinahe wieder richtig Hoffnung.
Glitsky rief nach dem Abendessen an und sagte, sie sollten die Nachrichten einschalten, weil David Freeman zu sehen war.
Moses und seine ihm vor kurzem angetraute Ehefrau Susan waren zu Besuch, und alle saßen vorne im Wohnzimmer. Während Hardy den Fernsehapparat einschaltete, ließ sich Moses aufs Sofa plumpsen. »Der Kerl kann sich ja noch mehr aufplustern als ein Heißluftballon«, sagte er. Hardy drehte sich um und sagte, David Freeman sei tatsächlich ein Heißluftballon. Wenn es ihm in den Kram paßte.
Schon tauchte Freeman höchstpersönlich auf dem Bildschirm auf. Unrasiert, völlig übernächtigt, die Krawatte krumm und schief über dem zerknitterten Hemd und die Ärmel halb hochgekrempelt - hier sah man einen Verteidiger, der die ganze Nacht und den ganzen Tag hindurch hart für seine Mandantin geschuftet hatte. Er saß auf der Kante seines Schreibtischs in seiner Kanzlei, die juristischen Fachbücher hinter ihm sichtbar - und dann war der Ton zu hören »... ein Sieg, aber um ganz offen zu sein, hatte ich das schon erwartet. Ich habe von der ersten Anhörung an darum gekämpft, daß dieser Fall aus Mangel an Beweisen niedergeschlagen wird, und selbstverständlich unterstützt diese Entscheidung der Richterin, was ich von vornherein unterstrichen habe -Jennifer Witt ist unschuldig. Sie hat diese Verbrechen nicht begangen.«
Hardy und Frannie, die jetzt ihr gemeinsames Geheimnis bezüglich Ned hatten, warfen sich einen Blick zu. »Der ist echt 'ne Nummer«, flüsterte Hardy.
Die junge Reporterin sprach ernsthaft in die Kamera. »Und Mr. Freeman, dem der gestrige Sieg ganz offensichtlich einigen Auftrieb gegeben hat, bringt noch stärkere Anschuldigungen vor.«
Der Mitschnitt war im Studio bearbeitet worden, und wieder begann die Aufnahme mitten im Satz. Freeman beantwortete soeben eine weitere Frage: »... es gibt ein politisches Motiv. Ich bedaure es, daß ich das ansprechen muß, aber es ist die Wahrheit - Dean Powell kandidiert für das Amt des Generalstaatsanwalts mit einem Programm, das die
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