Das Urteil
auch an ihrem eigenen Fleisch und Blut, ihrem einzigen Sohn, kaltblütig zu planen und auszuführen.«
Hardy wußte ebensogut wie Powell, daß dies die dreisteste Rhetorik eines Eröffnungsplädoyers war, aber es war überzeugend und juristisch korrekt. Wenngleich noch nie zuvor im Verlauf des Prozesses behauptet worden war, daß der Mord an Matthew Witt anders als zufällig erfolgt sei, war sein Tod durch eine Schußwaffe als direkte Folge und bei der Durchführung eines anderen »kaltblütigen« Verbrechens geschehen. Jedermann, der das erste Verbrechen plante, mußte sich inhärent die Möglichkeit des zweiten vor Augen halten. Zumindest war das der Punkt der Anklagevertretung. In diesem Sinne waren die beiden Verbrechen, juristisch gesehen, als gleichermaßen schwerwiegend oder doch genügend ähnlich anzusehen, so daß Hardy zu dem Entschluß kam, daß er keinen Einspruch erheben konnte, dem stattgegeben werden würde.
Powell hielt inne und wandte sich um, schaute jetzt Hardy und den Tisch der Verteidigung an. Jennifer, die jetzt links von Hardy saß - während der Prozeßphase zur Klärung der Schuldfrage hatte sie zu seiner Rechten gesessen -, schien ihr Kinn vorzurecken und Powell ihrerseits unbeirrt anzustarren. Hardy hatte ihr die Hand aufs Handgelenk gelegt - sie zitterte am ganzen Leibe. Er drückte fest zu, um ihr etwas mitzuteilen - es war nicht hilfreich für sie, wenn sie sich auf diesen trotzigen Blickaustausch einließ, auf dieses Spielchen, wer als erster klein beigab.
Aber im bisherigen Verlauf des Prozesses hatte es nur wenige und flüchtige Verweise auf ihren Sohn Matt gegeben -dies war eine Eskalation, und Jennifer ertrug sie nur schwer. Sie zog die Hand unter der Hardys hervor.
»Sie sind ein solches Arschloch«, sagte sie laut, unfähig sich zu beherrschen.
Der Gerichtssaal explodierte förmlich.
Powell stand mit sperrangelweit aufgerissenem Mund da, war aber ohne jeden Zweifel erfreut. Sollte sie sich doch selber die Schlinge um den Hals legen. Villars rief »Ruhe im Gerichtssaal!«, knallte ihren Holzhammer auf den Tisch. Der Zuschauerraum hinter Hardy war ein einziges Gemurmel und Gebrabbel. Hardy legte den Arm um seine Mandantin, zog sie zu sich heran und befahl ihr, auf der Stelle den Mund zu halten.
Über all dem Krach versuchte sich Villars Gehör zu verschaffen, allerdings ohne großen Erfolg. Jennifer machte Anstalten, aufzustehen und noch etwas zu sagen. Hardy drückte ihr erneut den Arm, versuchte sie unten zu halten, sie zu retten. »Aua.« Sie starrte ihn wütend an. »Sie tun mir weh. Lassen Sie mich los.« Sie bekam den Arm frei, sah jetzt die Richterin an, dann die Geschworenen. Eine Furie, die man in die Ecke getrieben hatte und die plötzlich wieder verstummte. Die beiden Justizwachtmeister näherten sich dem Tisch der Verteidigung.
Hardy sprang auf und griff nach Jennifer, versuchte gleichzeitig den beiden Wachtmeistern Zeichen zu geben, daß sie nicht einschreiten mußten. Mit ruhiger Stimme und ausgetreckten Armen wiederholte er in einem fort: »Ist schon in Ordnung, kein Problem ...« Außer daß es natürlich nicht stimmte. Jennifer schaufelte sich ihr eigenes Grab. Villars stand hinter ihrem Richtertisch, hatte den Holzammer völlig vergessen. Hinter Hardy rief jemand Jennifers Namen, und sie drehte sich um. Ken Lightner hatte sich zur Spitze des Zuschauerraums vorgedrängt, und Jennifer fiel ihm über die Balustrade hinweg, die sie voneinander trennte, in die A rme. Er hielt sie schützend im Arm, seine großen Hände streichelten ihr über den Scheitel, ganz ähnlich wie Eltern es machen, wenn sie ihr Kind trösten. Die Justizwachtmeister warteten ab, standen wie angewurzelt, wo sie haltgemacht hatten. Die Krise hatte weniger als in paar Augenblicke gedauert und schien vorüber zu sein, Villars nahm wieder Platz. Powell machte einen verwirrten Eindruck. Die Richterin klopfte mit dem Hammer auf den Tisch, verkündete eine Verhandlungsunterbrechung und befahl dann Hardy zu sich ins Richterzimmer.
Villars' üblicherweise graues Gesicht war puterrot. Powell sagte kein Wort. »Sie wird es nicht noch einmal tun, Euer Ehren ...« »Da können Sie Gift drauf nehmen, daß sie es nicht noch einmal tut!« Die Richterin sprach leise, stand hinter ihrem Schreibtisch und hatte die Hände darauf aufgestützt, das ganze Körpergewicht ruhte auf ihnen. »Wenn ich ihr keinen Knebel verpasse und sie es noch einmal tut, Mr. Hardy, dann mache ich Sie dafür verantwortlich. Dann
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