Das Urteil
sagte Freeman. »Sie müssen es aufgeben.« »Ich habe nichts anderes in der Hand. Die Frau hat keine Freunde. Sie hat eine Mutter, aber das ist die einzige Spur, die in ihre Vergangenheit führt. Sie ist juristisch betrachtet eben sowenig geisteskrank wie Sie und ich. Das ist die einzige Chance. Ich muß dranbleiben.«
Sie waren in Hardys Büro. Es war fast elf Uhr abends. Hardy hatte die ganze Stunde über, in der Mutter und Tochter mitein ander gesprochen hatten oder - genauer gesagt - versucht hatten, wieder eine Beziehung zueinander herzustellen, im Besprechungszimmer Mäuschen gespielt. Über weite Strecken war es verkrampft gewesen, mit langem Schweigen und vielen Tränen, doch die beiden Frauen hatten sich die ganze Zeit über an den Händen gehalten, und sie besprachen persönliche Dinge - Jennifers Prozeß hatten sie mit keinem Wort erwähnt.
Nachdem Hardy das Gefängnis verlassen und sich verge wissert hatte, daß es Nancy gut genug ging, um im Taxi nach Hause zu fahren, war er direkt hierhergekommen. Freeman arbeitete natürlich bis spät in die Nacht, er saß bereits an einem neuen Mordfall und arbeitete an dem Antrag auf Jenni fers Berufung.
Jetzt hörte Freeman seinem Mieter und zeitweiligen Partner zu, der die Hälfte seiner Ordner vom Schreibtisch gefegt hatte und vor Frustration und Müdigkeit ausrastete. »Wissen Sie, mit wie vielen Leuten ich in diesen sechs Monaten gesprochen habe? Und was hat die ganze Mühe gebracht? Ich habe Jennifers Mutter und Jennifers Psychofritzen, und die Geschworenen werden dem Psychofritzen nicht glauben. Das ist alles. Das ist meine Verteidigung, um das Leben der Frau zu retten.«
»Sie haben Jennifer selbst.« Überlaß es nur Freeman - er besaß ein Auge fürs Detail.
»Oh, was für eine prima Idee.« Hardy, der auf und ab tigerte, stieg über einen Stap el Akten. »Ich werde Jennifer aufrufen, damit sie den Geschworenen in die Augen blicken und sagen kann: Wenn Sie für meine Hinrichtung stimmen, dann kön nen Sie mich am Arsch lecken. Das wird die Jury schön sanft stimmen.«
Freeman war um den Schreibtisch herumgegangen und setzte sich in Hardys Stuhl. »Das ist wirklich alles, was Sie haben.«
Hardy blieb stehen. »Das ist es doch, was ich gerade ver sucht habe, Ihnen zu sagen, David. Sie ist völlig von der Welt isoliert. Als ob Sie das nicht wüßten. Sie ist viel zu hübsch, als daß andere Frauen ihr vertrauen würden, und sie ist Männern gegenüber nicht der platonische Typ Frau. Mit Ausnahme ih res Sohnes schien sie mit Kindern nichts am Hut zu haben. Nachdem Ned ihre Katze getötet hatte, hat sie nie wieder ein anderes Haustier gehabt. Geschworene lieben Katzenfreunde. Warum hat sie sich kein anderes Tier angeschafft? Tatsache ist, daß ich keine Menschenseele aufgetrieben habe, die irgend etwas Gutes über Jennifer Witt zu sagen hätte.« Hardy beugte sich vor und fing an, die Aktenstapel, die er heruntergeworfen hatte, wieder aufzusammeln. »Ich glaube wirklich, daß ich recht habe, David. Ich weiß, daß Simpson Crane irgendwen ausfindig gemacht hat, der im Begriff war, großen Mist zu bauen.«
»Glauben Sie auch, daß dieser Jemand Larry wirklich umgebracht hat oder hat umbringen lassen?«
»Das ist wenigstens ein Grund.«
»Genauso wie die Abtreibung. Vergessen Sie das nicht. Wir sind das schon alles durchgegangen, Dismas. Hat Jennifers Bruder Larry nicht ebenfalls gehaßt? Und ist der Streit zwischen Gewerkschaft und Simpson Crane nicht genau so gut wie ihre Idee mit dem Aktienschwindel? Könnte er denn tatsächlich deswegen umgebracht worden sein?«
»Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung, was Restoffer herausgefunden hat.«
»Das spielt keine Rolle, aber offensichtlich war es genug, um sein Interesse im gesamten Verlauf der ursprünglichen Ermittlungen wachzuhalten, nicht wahr?«
Der Punkt, den Freeman ansprach, war klar genug, aber Hardy war nicht in der Stimmung, das zu hören. Er wußte, daß jedes Ereignis im Leben eine beinahe unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten vernünftig klingen lassen konnte, ja sogar plausible Szenarios, um alles zu erklären, sofern die Einbildungskraft das einzige Kriterium war. Gerichtsprozesse würden nie zu einem Ende kommen, wenn die Anwälte die Erlaubnis hätten, noch eine andere Art und Weise vorzubringen, wie etwas passiert sein könnte, unabhängig von der Beweislage. Was auch der Grund dafür war, weshalb die Gerichte, überarbeitet wie sie waren, bei Hörensagen, Ammenmärchen und
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