Das Urteil
hob sie den Kopf. Anders als viele Insassen hier waren ihre Augen nicht ausdruckslos. Es stand Schmerz darin geschrieben. Wieder schüttelte sie den Kopf, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Alles«, sagte sie. »Sie haben alles mit mir gemacht.«
Er kam kurz vor Mitternacht zurück in ihr dunkles Haus in den Avenues. Er machte in der Küche halt und dann den Kühlschrank auf. Aus dem Schlafzimmer hörte er das Blubbern des Aquariums. Er saß am Küchentisch und nippte an seinem Bier.
»Es war doch eine Verlobungsfeier.« Frannie, immer noch in ihrem Sommerkleid und mit schlafzerzaustem Haar, lehnte an der Tür. »Es war nicht einfach bloß ein Mittagessen. Aber du hast es natürlich verpaßt, also ist es eh egal.«
»Frannie, fang nicht...«
»Nein, natürlich nicht. Stör bloß Dismas nicht. Seine Arbeit ist viel wichtiger als irgendein doofer Familienkram.«
»Das hab ich nicht gesagt. Ich denke das auch nicht.«
»Aber natürlich nicht.«
Er trank einen Schluck Bier. »Willst du dich hinsetzen und darüber reden? Oder willst du mich nur angiften?«
»Ich glaube, ich will dich nur angiften.«
Er setzte das Bier auf dem Tisch ab und sah zu ihr hinüber. Das Leben war nicht so einfach, wie Frannie manchmal gerne glaubte. Sie neigte dazu, die Tatsache aus den Augen zu verlie ren, daß noch andere Dinge in der Welt abliefen als zwei kleine Kinder und das Liebesleben ihres Bruders Moses. »Du bringst die Sachen durcheinander«, sagte er zu ihr.
»Ich bring die Sachen durcheinander. Das ist klasse. Das ist echt Klasse.«
»Danke«, sagte er. »Aber weißt du, in diesem Moment bin ich nicht gerade in Topform. Ich habe keine Lust, mich an giften zu lassen. Ich versuche unseren Lebensunterhalt zu verdienen, damit du hierbleiben und dir einen schönen Lenz machen kannst, und es tut mir schrecklich leid, daß ich manchmal Dinge erledigen muß, die nicht in den Terminplan passen. So was passiert. Scheiße passiert, Frannie, und ich muß sehen, wie ich damit klarkomme.«
»Ach, du Armer.«
Er starrte sie an. Das Ganze war einfach zu einem blödsinnigen Streit ausgeartet. Lieber den Rückzug antreten. Er schnappte sich sein Bier, nahm einen tiefen Schluck und stand dann auf, ging durch den langen Gang hinüber ins Wohn zimmer.
Sie kam ihm nicht nach. Prima. Er griff sich eines der kleinen Kissen und stopfte es sich auf dem Sofa, wo er die Nacht verbringen würde, unter den Kopf.
15
Am 11. Juli, einem echten Glückstag, wachte Hardy im Wohn zimmer mit Rückenschmerzen auf. Er blickte auf die Uhr und sah, daß es kurz vor sechs war. Das Haus war still, das Licht gedämpft.
Er machte die Haustür auf und holte die Sonntagszeitung. Dann trottete er in Socken in die Küche und holte die schwarze, gußeiserne Bratpfanne hervor, die er seit seiner Studentenzeit hatte, stellte sie auf eine der Gasflammen und legte ein Pfund Speck hinein.
Er bewegte sich bedächtig, und die Verspannungen in seiner Rückenmuskulatur lösten sich allmählich beim Herumhantieren in der Küche, beim leisen öffnen der Schranktüren, beim Aufsetzen des Kaffees, dem Mixen des Waffelteigs (Beck mochte für ihr Leben gern Waffeln). Der Speck fing an zu brutzeln und zu duften.
Er setzte sich mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch.
In den vergangenen vier Monaten, während Jennifer flüchtig war, hatte er das Büro in Freemans Kanzleigebäude als Stützpunkt benutzt, und um die Wahrheit zu sagen, ging es ihm alles andere als blendend. David oder dessen Mitarbeiter hatten einige banale Fälle an ihn weitergereicht. Bei vielleicht einem halben Dutzend von ihnen war es ihm gelungen, die Leute vor Gericht freizubekommen. Die anderen zwei - ein strittiger Fall von Trunkenheit am Steuer und ein Ladendiebstahl - kamen im üblichen Schneckentempo dieser Kategorie von Kleinkram voran und würden wohl irgendwann vor Ende des Jahrhunderts zur Verhandlung anstehen.
Noch schlimmer aber war das Gefühl, daß er schlicht und einfach die Zeit totschlug, in der Routine versackte. Es war ganz ähnlich wie bei der Staatsanwaltschaft, wo man mit kleinen Vergehen zu tun hatte und sie durch die Mühlen der Bürokratie schleuste - außer daß er diesmal, von seiner Warte aus betrachtet, auf der falschen Seite stand.
Das nächste Problem - und es war ein massives - hing damit zusammen, daß er vom Gericht auf die Liste der anerkannten Strafverteidiger gesetzt worden war, die als Pflichtverteidiger herangezogen werden konnten, und vor einem Monat
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