Das verborgene Feuer
sehr nah, und sie beschloss, lieber nicht mit einem hässlichen Haaransatz rumzulaufen (auch wenn sie ihn nicht sehen konnte); also setzte sie sich und ließ die beiden Frauen ans Werk gehen.
Während die beiden auf Griechisch miteinander plauderten, dachte Beatrice an ihren letzten Haarschnitt mit Färbung. Sie hatte mit ihrer Großmutter den Salon besucht, in dem Martas Sohn arbeitete, ein Glas Wein getrunken, über die durch das Geschäft schwirrenden Scherze gelacht und die heimischen Stimmen genossen.
Als sie jetzt an die beängstigende Welt dachte, in die sie hineingezogen worden war, liefen ihr Tränen über die Wangen. Schniefend unterdrückte sie ihr Schluchzen, während die nun verstummten Frauen ihr Haar färbten und schnitten. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft fühlte Beatrice sich todunglücklich.
Schließlich wiegte das beständige Rauschen der Brandung sie in den Schlaf. Als sie aufwachte, fühlte ihr Haar sich weich an und glänzte an den Spitzen, und der Mond beschien ein unbewegtes Meer.
Leider hatte sie einen ungebetenen blonden Besucher.
Er grinste. »Du siehst großartig aus. Diese Farbe steht dir viel besser als Schwarz.«
Sie blickte aufs Meer. »Was schert es Sie, ob ich hässlich bin? Ich bin hier Ihre Gefangene.«
»Ich sehe in dir lieber meinen Gast.«
»Sie können denken, was Sie wollen, Blondie, aber ich bin doch Ihre Gefangene.«
»Blondie?«, fragte er lachend. »Du machst mir wirklich Spaß, Beatrice. Unsere Plaudereien sind stets amüsant. Aber warum so feindselig? Wolltest du dein Haar nicht frisiert bekommen? Möchtest du lieber unansehnlich herumlaufen?«
Sie wollte ihn nicht ansehen und beobachtete lieber, wie sich das schimmernde Spiegelbild des Silbermonds in den Wellen unter ihr brach.
»Ich hätte im September mein Aufbaustudium beginnen sollen«, sagte sie. »Eine Ausbildung zur Bibliothekarin.«
Er schnaubte. »Warum?«
Sie zuckte die Achseln und wischte ihre stillen Tränen weg. »Ich mag Bücher und helfe Menschen gern. Es war zwar kein großer Traum, aber es war mein Traum.«
»Das ist dein Problem: kleine Träume. Hat dir mal jemand gesagt, man soll groß träumen? Ich habe das herausgefunden. Auch ich habe Träume, aber sie sind nicht klein, sondern eher … weltverändernd.« Endlich sah sie ihn an. Er blickte aufs Meer, und kaltes Licht funkelte in seinen Augen. »Und sie werden wahr, sobald ich deinen Vater zurückhabe.«
Es fiel ihr schwer, noch zornig auf ihn zu sein; der Schrecken hatte sie erschöpft. »Vielleicht hätte ich geheiratet und mir eine Katze zugelegt. Vielleicht hätte ich eines Tages ein Buch geschrieben.«
»Oder dich hätte auf dem Heimweg von der Arbeit ein Bus überfahren. Menschen sind sehr zerbrechlich.«
Beatrice hatte nicht das Gefühl, es habe Sinn, sich zu streiten. Niemand würde ihr zu Hilfe kommen. Hätte sie nicht die schwache Hoffnung besessen, ihr Vater werde einen Weg finden, sie aus diesem Gefängnis zu holen, hätte sie gewagt, die Klippen hinunterzuklettern, um womöglich zerschmettert am Fuße der Felsen zu landen. Letztlich war ihr klar, dass sie und ihr Vater nur eine kleine Chance besaßen, Lorenzo zu entkommen; sehr wahrscheinlich würde sie unter seiner Fuchtel bleiben. Möglicherweise bis in alle Ewigkeit.
»Gerüchten zufolge ist Giovanni in Rom«, sagte Lorenzo plötzlich, »und spricht mit all seinen kleinen Verbündeten.« Er stieß das Lachen eines Irren aus, und sie versuchte, die schwache Hoffnung zu ersticken, die sich in ihrer Brust rührte. »Meinst du, er versucht, dich zu befreien, Beatrice? Meinst du, er kommt, um dich zu retten? Möchtest du das überhaupt noch?«
Ja
. Selbst wenn Giovanni nur der Bücher wegen käme, die Lorenzo ihm gestohlen hatte, könnte sie ihn vielleicht dazu bewegen, sie mitzunehmen. Sicher war nicht seine gesamte Menschlichkeit vorgetäuscht. Bestimmt würde Caspar nicht –
»Er gibt sich immer wieder Mühe, geradezu ekelhaft gut zu sein«, sinnierte Lorenzo. »Kaum jemand kennt den echten Vampir.«
»Tatsächlich?«
»Hat er dir erzählt, warum er mich verwandelte? Obwohl es ihm so unähnlich sieht, ein Kind zu haben? Ich bin sein einziger Sohn, weißt du. Ihm liege nichts daran, ›Bindungen einzugehen‹ – das hat er gesagt, als er mich wegschickte.« Obwohl Lorenzo lässig klingen wollte, hörte Beatrice etwas Bitteres in seiner Stimme.
»Wirklich?« Es fiel ihr schwer, Mitleid mit diesem blutrünstigen Unsterblichen zu empfinden. »Sie
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