Das verfluchte Koenigreich
eleganten, gewölbten Mauern, die schlanken Türme und blitzenden Turmspitzen aus weißem Kristall. Das Gemäuer funkelte so hell, dass Tania kaum hinsehen konnte.
Eine leise Stimme wisperte ihr ins Ohr: »Erinnerst du dich?« Es war Sancha, die hinter ihr stand und ebenfalls zum Palast aufblickte. »Weißt du noch – die langen, sorglosen Wochen im Sommer, wenn der ganze Elfenhof zur Sonnwendfeier in den Veraglad-Palast zog?«
»Nein, ich erinnere mich nicht«, sagte Tania traurig. »Ich wünschte, ich könnte es.«
»Vielleicht kehrt die Erinnerung zurück, wenn du dein altes Zimmer im Turm der Morgenröte wiedersiehst.«
»Ja, vielleicht«, seufzte Tania leise. »Man soll die Hoffnung nie aufgeben.« Leider wusste sie von ihrem früheren Leben nur das, was sie in ihrem Seelenbuch gelesen oder von anderen gehört hatte. Der Verlust ihrer Erinnerungen betrübte sie sehr.
Jetzt drehte sie sich um und schaute auf die betriebsamen Decks. Hinter dem hohen Heck der Wolkenseglerin zeichneten sich die anderen Schiffe im schaumigen Kielwasser ab. Das Quarantäneschiff kam ganz am Schluss; es war mit einer roten Flagge gekennzeichnet, die an der Spitze des Großmasts flatterte.
»Ich bete darum, dass niemand gestorben ist«, flüsterte Tania.
»Hopie ist eine Meisterin der Heilkunst«, sagte Sancha. »Ich glaube fest daran, dass unsere Schwester diese Krankheit besiegen wird.«
Hopie und Titania waren an Bord des Quarantäneschiffs, um die Kranken zu pflegen, und Hopie mischte unermüdlich Tinkturen und Tränke an, um endlich ein Mittel gegen die tückische Krankheit zu finden.
»Wenigstens hast du die Hoffnung noch nicht aufgegeben«, murmelte Tania. »Das gefällt mir …«
Aber würde Sanchas Zuversicht etwas bewirken?
Rhyehaven schmiegte sich zwischen zwei Steilklippen. Der Hafen war von zwei gebogenen Felsen eingefasst, die weit ins Meer ragten und nur eine schmale Fahrrinne ließen. Am seewärtigen Ende stand jeweils eine Feuerbake, die in der Morgensonne glühte, als die Wolkenseglerin die anderen Schiffe in den Hafen lotste.
Tania blickte auf die kleine Stadt, auf die Uferpromenade mit den großen schwarzen Werften, die Lattenverschläge der Trockenböden, die engen, krummen Gässchen, die Häuser und Läden aus Stein oder Fachwerk. Der Kai war mit Fischernetzen behängt, die wie Spinnweben auf dem Kopfsteinpflaster lagen. Eine Flotte von kleinen Fischerbooten schaukelte auf der einen Seite des Hafenbeckens und die Fischer waren gerade dabei, den nächtlichen Fang auszuladen, umschwirrt von kreischenden Seemöwen.
Es roch nach Salz und Tang und Tania fühlte sich in ihre Kindheit zu Hause in England zurückversetzt. Sie hatten häufig Ferien am Meer gemacht in einem kleinen grünweißen Häuschen direkt hinter den Sanddünen. Es gab ein Karussell und einen Spielsalon am Strand. Viele bruchstückhafte Erinnerungen kamen zurück: Eis am Stiel. Fish and Chips , in Wachspapier gewickelt. Riesige goldene Sandflächen bei Ebbe, das Meer ein silberner Schimmer am Horizont. Sandburgen mit ihrem Vater bauen. Im Watt nach Muscheln suchen, ehe die Flut hereinrauschte. Durch die Brandung laufen, die Zehen voll klebrigem Sand.
So viele lebhafte Erinnerungen.
Vielleicht bin ich doch nicht Prinzessin Tania aus dem Elfenreich, sondern Anita Palmer, Tochter von Clive und Mary Palmer in Camden, London, Eddison Terrace 19. Hat Dad vielleicht doch Recht? Bin ich von den Eindrücken und Erlebnissen im Elfenreich nur geblendet? Soll ich wieder zurückgehen und abwarten, bis die Erinnerungen an mein Leben hier verblasst sind wie ein ferner Traum?
»Tania!« Sanchas Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. »Komm schnell. Graf Valentyne geht es schlechter. Eden sucht dich.«
Graf Valentynes Bett war auf das Oberdeck des Quarantäneschiffs gebracht worden. Die Mannschaft weigerte sich, in seine Nähe zu kommen, aber Eden wich nicht von seiner Seite.
»Eden?«, fragte Tania. »Was ist passiert?«
»Ich kann ihn nicht aufwecken«, schluchzte Eden verzweifelt. »Du kennst dieses seltsame Leiden – was bedeutet das?«
Tania blickte in Graf Valentynes ausgemergeltes Gesicht. Die Haut war grau und glänzte fiebrig und seine Augen waren geschlossen – er sah aus, als ob er starke Schmerzen hätte.
»Ich weiß nicht«, antwortete Tania hilflos. »Wo sind Hopie und unsere Mutter?«
»Unter Deck bei den Kindern.« Eden ergriff Tanias Hand und drückte sie so fest, dass es schmerzte. »Ich fürchte, er stirbt, Schwester«, stieß
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