Das Verlies
hatte ihm damals einen Ford Escort aus meinem Geschäft angeboten, aber den wollte er nicht. Also hat er den BMW gekriegt.«
»Ich hab das nie gewusst«, sagte Wolfram nachdenklich, trank sein Glas in einem Zug leer und bestellte gleich ein weiteres. »Ich habe immer gedacht, er wäre nur tollpatschig. Außerdem war es mir sowieso egal, was mit ihm war.«
»Ich glaube, dein Bruder hat etwas ganz Furchtbares gemacht. Du musst mit der Polizei darüber sprechen. Und da ist noch etwas. Rolf war ein paar Mal für einen Tag einfach so verschwunden, ohne dass wir ihn finden konnten. Und mit einem Mal ist er wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht. Und wir wussten nie, wo er war, er hat es nie gesagt. Kannst du dich wenigstens daran erinnern?«
»Nein, ist aber auch egal. Wenn du’s sagst, wird’s wohl so sein.«
»Es passt einfach alles zusammen. Er ist am Dienstag verschwunden, und zwei Tage später war er wieder da. Aber diesmal gab es zwei Tote.«
»Mein Gott! Das ist heftig. Doch um noch mal auf den Arzt zurückzukommen, wie hieß der noch gleich?«
»Dr. Hahn. Er war unser Hausarzt. Aber dich hat er nie behandelt, weil du nie krank warst.«
»Lebt der noch?«
»Keine Ahnung. Und wenn, dann ist er bestimmt schon achtzig, vielleicht sogar noch älter. Ich wollte es dir nur sagen.«
»Wir müssten Dr. Hahn ausfindig machen und …«
»Nein, nicht wir, sondern die Polizei soll ihn finden. Er hat seine Praxis gleich um die Ecke gehabt. Ich hoffe nur, dass er noch nicht tot ist und sich an Rolf erinnern kann. Normalerweise dürfte ich als Vater gar nicht so denken, aber ich habe Gabi viel zu sehr gemocht, und ich weiß, dass sie Markus niemals allein bei Rolf gelassen hätte. Ich wünsche mir, dass Rolf kein Mörderist, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer werde ich. Das ist ein elendes Gefühl für einen Vater, das kann ich dir sagen.«
»Ich glaub’s dir.«
»Und versprich mir, nichts auf eigene Faust zu unternehmen. Sag’s der Polizei, und sollten sie noch Fragen haben, dann schick sie zu mir. Deine Mutter soll ruhig wissen, was für eine Satansbrut sie großgezogen hat. Ich mein damit natürlich nicht dich.«
»Andrea hat mich auch schon gewarnt, allein etwas zu unternehmen. Sie würde mich sonst verlassen …«
»Sie ist nett, ich mag sie. Tu ihr nicht weh.« Nach den letzten Worten senkte Horst Lura den Kopf, seine Schultern zuckten, seine Hände zitterten, Tränen tropften auf den Tresen.
»He, Papa, komm, lass uns nach draußen gehen«, sagte Wolfram und legte seine Hand auf die seines Vaters.
»Lass gut sein. Es ist nur so, da gehst du immer schneller auf das Lebensende zu und erkennst, was dieses Leben alles mit dir angestellt hat. Du hast geschuftet wie ein Esel, aber sonst war da nichts. Seit siebenundvierzig Jahren bin ich jetzt mit deiner Mutter verheiratet, aber sie ist mir völlig fremd geworden. Ich mag nicht mehr mit ihr zusammen sein, aber ich kann in meinem Alter auch nicht mehr weggehen. Ich habe früher einmal gedacht, ich würde sie lieben, doch ich glaube, das war nur am Anfang. Erst kam Rolf, dann du, und sie wurde immer launischer und unberechenbarer. Du solltest mal miterleben, wie ein normaler Tag bei uns aussieht. Die putzt immer noch jeden Tag das ganze Haus, ich kann dieses verfluchte Geräusch des Staubsaugers nicht mehr hören oder das Quietschen, wenn sie die Fenster putzt. ›Horst, zieh deine Schuhe aus und pass auf, dass du nicht krümelst, ich hab gerade vorhin gesaugt!‹ Die hat jedes Mal vorher gesaugt und Staub gewischt und … Mir kommt die Galle hoch! Also verziehe ich mich fast jeden Abend hierher, trink meine drei, vier Bier und lass alles über mich ergehen.«
»Papa, du hast doch genug Geld. Nimm’s und mach dir ein schönes Leben am Mittelmeer oder sonst wo. Ich bin aus allen Wolken gefallen, als du mir gestern erzählt hast, was Mutter mit dir all die Jahre gemacht hat. Komm, du bist gerade mal siebzig und noch sehr rüstig. Hau ab von hier, lass dir die Sonne auf den Pelz brennen und lach dir eine andere Frau an. Mutter kommt auch ohne dich klar, sie hat ja noch ihren lieben Rolfi. Tu’s einfach.«
Horst Lura lachte auf und meinte: »Ich soll nach siebzig Jahren einfach aus meiner Heimat weggehen? Wie heißt es so schön – einen alten Baum verpflanzt man nicht …«
»Das sind dumme Sprüche. Ich merke doch, dass du es gerne tun würdest, aber du hast Angst vor Mutter. Hab ich Recht?«
»Schon möglich.«
»Soll ich dir was sagen,
Weitere Kostenlose Bücher