Das verlorene Land
dass ein kurzer Blick von nur einer oder zwei Sekunden aus seinem Versteck heraus das Letzte sein konnte, was er im Leben tat. Das Wissen darum machte das dumme, tierische Gelächter und das Geschrei der anderen Kämpfer, die offenbar noch immer um die Laster mit den Raketenwerfern herumtanzten, umso ärgerlicher. Hatten die denn immer noch nichts dazugelernt?
Die Antwort kam in Form eines plötzlichen schrillen Heulens, als die Amerikaner ihre eigenen Raketen und Lenkwaffen losschickten. In seiner Deckung machte sich Yusuf so klein wie möglich und atmete aus, um sich vor der Welle des Überdrucks zu schützen, die zweifellos nach dem Aufprall der Raketen mit dem bezeichnenden Namen »Hellfire« entstehen würde. Er warf sich zu Boden, rollte sich zusammen und bemerkte nur ganz undeutlich, wie der Himmel über der Insel sich in ein todbringendes Inferno verwandelte. Ihre eigenen Raketen, die sie im Schutz der Dunkelheit mit Lastwagen vom Festland auf dieses ehemalige Areal für Einwanderer gebracht hatten, waren wie Zulu-Speere durch die Luft geflogen. Die Waffen der Amerikaner hingegen schienen die gesamte Luft über ihm in ein zerstörerisches Inferno zu verwandeln. Es gab kein Wusch-Wusch-Wusch von nacheinander abgefeuerten Raketen, sondern nur eine einzige wahnwitzige, grausam dröhnende Explosion von Feuer und Rauch, und der Boden unter ihm erbebte. Es war ein furchtbarer Schock für den kleinen Soldaten, den es nicht gewundert hätte, wenn die Amerikaner die ganze Insel so lange unter Feuer nahmen, bis sie völlig zerstört im Fluss versank.
Er wusste nicht, wie lange er dort zusammengerollt gelegen hatte, gelähmt vor Angst. Er fühlte sich so klein und hilflos und ausgeliefert, dass er schon halluzinierte, er selbst würde aus seinem Körper herausgequetscht werden und müsste mit ansehen, wie seine sterblichen Überreste
auf dem Boden des Unterstands liegen blieben. Seine Gedanken schienen sich über die Hölle, in der sein Körper gefangen war, hinauszuheben, aber sein Selbst verflüchtigte sich nicht, sondern fiel hinab in einen langen dunklen Tunnel, an dessen Ende eine kleinere, jüngere Version von ihm stand, und der Yusuf von damals zitterte vor Angst. Wie in einem Traum konnte er die genauen Umrisse dieser Vision nicht ausmachen. Es war mehr eine Ansammlung von undeutlich erinnerten Bildern aus einer Zeit, die er lieber vergessen wollte. Seine Mutter schrie vor Schmerz, nachdem die Männer von Captain Kono ihr die Lippen aus dem Gesicht geschnitten hatten. Seine dünnen Ärmchen zitterten hilflos und nutzlos, als er wie gelähmt mit einem Knüppel in der Hand über seinem Onkel Bongani stand, während Kono ihn anbrüllte, er solle den alten Mann endlich töten, wenn er selbst am Leben bleiben wollte.
Natürlich hieß er damals noch nicht Yusuf Mohammed. Er erinnerte sich nicht mehr an den Namen, den er hatte, als er in dem Dorf bei seiner Mutter mit seinem Onkel, den Brüdern und Schwestern und den vielen Cousins und Cousinen wohnte. Er wusste nicht mehr, ob er glücklich gewesen war, aber manchmal, sogar jetzt, ging er davon aus, dass es wohl so gewesen sein musste, auch wenn dieses Glück ein Ergebnis seiner Unwissenheit gewesen war.
Yusuf Mohammed versuchte sich dieses Alptraums zu entledigen, bevor er noch schlimmer wurde. Er wusste, dass er noch viel grausiger werden konnte, denn es gab noch viel schrecklichere Erinnerungen als jene, wie er seinen lieben Onkel umgebracht hatte, um sein eigenes Leben zu retten. Er zwang sich, seine Augen wieder für die Wirklichkeit zu öffnen, auch wenn um ihn herum ein höllisches Inferno tobte. Überrascht stellte er fest, dass er jetzt einige Meter entfernt von seinem Schlupfwinkel auf dem Erdboden lag. Der Unterstand war nur noch ein rauchender
Krater, den die Explosion einer Bombe in die Erde gerissen hatte. Sein Herz, das ohnehin schon wild hämmerte, wollte aus seiner Brust springen, als er einen abgerissenen Arm und ein Bein bemerkte, den grauenvollen Anblick von zerfetztem Fleisch, den er vom Schlachtfeld her nur zu gut kannte. Trotzdem stemmte er sich vom Boden hoch, denn er wusste, dass es nicht seine Glieder waren, die dort lagen. Er war tatsächlich unversehrt geblieben.
Seine Waffe hing noch immer um seine Schulter, aber sein Sack mit der Munition war verschwunden. Sein Brustkorb schmerzte heftig, als hätte jemand dagegen geschlagen.
Ein schauriges Geräusch, es klang wie das Dröhnen einer riesigen Metallpresse, brachte ihn endgültig
Weitere Kostenlose Bücher