Das verlorene Land
Riemen hoch, der immer wieder von ihrer verletzten Schulter rutschte, und dann kletterte sie rückwärts von dem Schutthaufen, auf dem sie gerade noch gelegen hatte. Von der St. Patrick’s Cathedral war nicht mehr viel übrig, sie war ausgebrannt, und man konnte durch die Reste des Dachs hindurch den Himmel sehen. Julianne fragte sich, ob man
sie wohl absichtlich zerstört hatte. Überall lagen die Scherben der bunten Kirchenfenster, aber alle wertvollen Objekte waren längst fortgeschafft worden. Im Vorraum, wo sie sich versteckt hielten, stank es nach menschlichen Exkrementen. »Wir haben hier wohl nichts mehr verloren«, sagte sie. »Am besten machen wir uns davon.«
»Sehr gute Idee«, brummte er.
Zwei Straßenblöcke weiter, auf der Park Avenue, war es jetzt wieder überraschend ruhig, beinahe verlassen, und sie konnten sich freier bewegen, wenn sie vorsichtig waren. Die große Anzahl feindlicher Kämpfer am Rockefeller Center zu umgehen hatte sie einige Zeit gekostet, denn während sie die Hindernisse überwanden, hatte Julianne darauf bestanden, genau auszukundschaften, wo die verschiedenen Gangs sich befanden. Es konnte nie schaden, wenn man genau wusste, wo der Feind lauerte. Allerdings schien es, wenn man Milosz und seinen Kameraden glauben konnte, an der Zeit zu sein, sich nicht mehr zu viele Gedanken um Konkurrenz durch die Piraten zu machen. Die wollten die Stadt ganz offensichtlich nicht mehr ausplündern, sondern komplett übernehmen.
Die nächtlichen Regenschauer waren abgeklungen und die Überschwemmungen zurückgegangen. Hier und da erstreckten sich noch größere Seen mit öligem Wasser, und manche Straßen hatten sich in träge Flüsse verwandelt, während sich von den Dächern der demolierten Gebäude kleinere Wasserfälle ergossen. Die dumpfen Gefechtsgeräusche im Süden erklärten vielleicht, warum viele Straßen derart menschenleer waren. Sicherlich waren Tausende von Kämpfern aufgebrochen, um sich an den dortigen Auseinandersetzungen zu beteiligen. Es würde bestimmt nicht lange dauern, bis das Machtvakuum, das nun in diesem Teil der Stadt entstanden war, von jemand anderem ausgefüllt wurde.
»Es ist alles einfach scheiße«, murmelte sie vor sich hin.
»Was ist los?«, fragte Rhino, als sie an der Ecke zur 52. Straße anhielten und hinter einem umgekippten Kühlwagen Schutz suchten, um den nächsten Straßenzug zu überblicken.
»Ach, es ist alles so deprimierend«, sagte sie missgelaunt. »Ich hab diese Stadt geliebt, Rhino. Vor allem diesen Teil hier. Ich hatte einfach nur gehofft, dass … na ja.«
Er hielt kurz inne und erwiderte: »Dass nicht alles total im Arsch ist. Dass vielleicht irgendwo ein hübsches Schmuckstück herumliegt, das sie einstecken und mit nach Hause nehmen können? Eine Erinnerung an die Vergangenheit?«
»Herrje, wenn man es so ausdrückt, klingt es einfach nur banal.«
»Klar, weil es banal ist. Die Wirklichkeit ist eben so.« Er deutete mit seiner MP auf eine aufgeblähte Leiche auf der anderen Straßenseite im Eingang der Citibank.
»Der 11. September war das Ende des Goldenen Zeitalters in diesem Teil der Welt. Dann kam die Energiewelle und hat den ganzen Schrott weggehauen. Danach konnte einfach nicht mehr viel übrig sein. Kommen Sie jetzt«, sagte er und rannte vom Wrack des Lieferwagens zu einer weiteren Unfallstelle ungefähr hundert Meter weiter. Hier war ein halbes Dutzend Autos mit einem großen blauen Bus kollidiert, und sie mussten sich um den Blechhaufen herumschlängeln. Graues Wasser hatte sich in einer Pfütze angesammelt, die tief genug war, um bis zum Rand ihrer Stiefel zu reichen. Jules ging langsamer, um ihre verletzte Schulter zu schonen.
»Sorry«, ächzte sie kurzatmig.
Er zuckte mit den Schultern und prüfte die Lage im nächsten Abschnitt, den sie sich vornehmen mussten.
»Ich bin noch nicht mal von hier, und ich hänge mehr an dieser Stadt als Sie«, sagte Julianne und nahm damit den Gedankengang von eben wieder auf.
»Miss Jules, ihre ironische Distanzierung funktioniert ja wirklich großartig. Aber wie wäre es, wenn wir uns jetzt mal mit dem beschäftigen, um was es eigentlich geht? Dieser Pole hat uns gesagt, dass es haariger wird, wenn wir uns dem Park nähern. Milosz meinte, dass da noch immer eine Menge übler Typen rumhängen, auch wenn die meisten jetzt vielleicht schon nach Downtown abgezogen sind. Jede Wette, dass die Banden von der Westside versuchen werden, durchzubrechen, weil sie sich ausrechnen, dass
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