Das Vermächtnis der Feuerelfen
vor Erschöpfung ganz vergessen. Dankbar ergriff sie den Becher und leerte ihn in einem Zug. Die Flüssigkeit schmeckte bitter, und für den Bruchteil eines Augenblicks durchzuckte sie der Gedanke, dass sie besser nicht hätte trinken sollen. Aber auch er entglitt ihr so schnell, wie er aufgetaucht war. Was blieb, war ein Gefühl der Zufriedenheit und Schwere, dem sie sich nur allzu gern überließ. Seufzend sank sie wieder auf das weiche Lager und schloss die Augen.
Kaum hatte sie das getan, übermannte sie das unheimliche Gefühl, aus sich selbst herauszutreten. Sie fühlte sich leicht und schwebend wie ein umherwandelnder Geist, und als sie sich umdrehte, sah sie sich tatsächlich auf dem schwarzen Altar liegen. Überraschenderweise machte der Anblick ihr keine Angst. Warum auch?
Noch nie hatte sie sich so frei gefühlt, noch nie so unbeschwert den Moment genossen. Sie konnte gehen, wohin sie wollte …
»Bleib!«
Ein Ruck durchfuhr Caiwen, als Nimeyes Stimme befehlend
durch die Höhle hallte. Die Elfenpriesterin stand neben ihr und hatte die Hand auf ihre Stirn gelegt.
»Komm zurück!«
Noch während Nimeye die Worte aussprach, wurde Caiwen zurückgerissen in die dunklen und engen Tiefen ihres Körpers, der sie wie ein Gefängnis umgab.
Verliere das Ziel nicht aus den Augen! Du musst suchen!
Nimeyes Stimme klang nun seltsam verzerrt, aber sie verfehlte ihre Wirkung auf Caiwen nicht. Zögernd begann sie mit der Suche nach dem Wissen ihrer Mutter, das irgendwo in ihr ruhen musste. Körperlos tastete sich Caiwen durch ihr Bewusstsein und tauchte immer tiefer darin ein. Wenn es doch nur nicht so dunkel wäre …
Schließlich - war es einen Augenblick später oder eine halbe Ewigkeit, Caiwen wusste es nicht - gelangte sie an einen Durchlass, in dem wie in einem Spiegel helle Farben schimmerten, die ineinander verliefen und sich immer wieder aufs Neue mischten.
Der Spiegel der Erinnerungen , raunte Nimeye ihr zu, die auf wundersame Weise mit ihr verbunden schien und sie auf ihrer Suche begleitete. Ihre Nähe machte Caiwen Mut. Unschlüssig, was sie tun sollte, verharrte Caiwen vor dem Spiegel, aber Nimeye trieb sie voran.
Tauche hindurch, befahl sie. Nur dann wirst du finden, wonach es dich verlangt.
Caiwen gehorchte. Entschlossen trat sie mitten in das Farbenmeer und erstarrte, als jäh eine Flut von Bildern in rascher Folge auf sie einstürmte. Bilder aus ihren Erinnerungen, die ihr nur allzu vertraut waren:
Sie stand Nimeye auf der Mole gegenüber... blickte in das Angesicht des Wirbelsturms sah noch einmal, wie der Nachtmahr einen Krieger vom Pferd riss... glaubte, unter Wasser zu ertrinken... sah den Mhorag mit Heylon im Maul... Durin verletzt
auf dem Sand... das Grab ihrer Schwester... Lenval auf dem Weg zum Strand... Verrina beim Weben …
Da war Armide, lächelnd am Herdfeuer sitzend... Heylon im Alter von fünf Wintern beim Schnitzen einer Holzfigur... Verrina, die sie in den Armen hielt und ein Schlaflied sang... Lenvals Gesicht zwischen den Trümmern der Takelage... ihre Mutter, die ihr zwei Finger auf die Stirn legte …
Weiter! Geh weiter!
Nimeyes Stimme zerrte Caiwen aus dem Farbenmeer in die Dunkelheit dahinter.
Du musst weitersuchen! Wir haben nicht mehr viel Zeit.
Es dauerte mehrere Herzschläge, ehe die Worte Caiwen erreichten. Berauscht von den Eindrücken des Erlebten, kämpfte sie sich durch die Erinnerungen in die tieferen Schichten ihres Bewusstseins vor und gelangte an ein düsteres, wolkenähnliches Gebilde, dessen Oberfläche sich wild kräuselte.
Der Sturm der Gefühle, wisperte Nimeye und befahl: Geh hindurch!
Als Caiwen in die Wolke trat, wurde sie augenblicklich von wilden Gefühlen in ihrer reinsten Form übermannt. Todesangst nahm ihr den Atem, den ihr die Hoffnung zurückgab. Hass schnürte ihr die Kehle zu, worauf die Zuneigung sie mit einer wohligen Wärme aus seinen Klauen befreite. Neid drohte sie innerlich zu zerreißen, während die Hilfsbereitschaft ihr die Kraft gab, sich dagegen zu wehren. Wut und Zorn brandeten auf sie ein und hätten sie sicher mitgerissen, wenn Liebe und Freundschaft nicht im letzten Augenblick einen schützenden Ring um sie gebildet hätten.
Caiwen kämpfte sich verbissen voran, aber sie verlor sich im Tosen der Gefühle, die immer heftiger auf sie eindrangen, sie zu zerstören versuchten oder sie im letzten Augenblick vor dem Wahnsinn retteten.
Das Licht, du musst das Licht erreichen!
Nimeyes Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
Weitere Kostenlose Bücher