Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Worte aus Brighids Mund klangen noch sehr ungelenk, so, als würde ein kleines Kind sie sprechen, und mit deutlichem französischem Akzent. Aber Mary freute sich trotzdem über den Fortschritt.
»Sehr gut«, lobte sie, »Ihr Englisch wird von Tag zu Tag besser.«
»Danke«, entgegnete Brighid und errötete, was ihren blassen Zügen etwas Mädchenhaftes verlieh, gleichwohl hier und dort eine weiße Strähne ihr langes ansonsten rabenschwarzes Haar durchzog. Dass sich ihr Alter ebenso wenig bestimmen ließ wie ihre Herkunft, unterstrich die geheimnisvolle Aura, die sie umgab und die eine eigentümliche Faszination auf Mary ausübte.
Vom ersten Augenblick an hatte sie sich Brighid verbunden gefühlt. Vielleicht, weil ihr einsamer und entwurzelter Zustand sie an sich selbst erinnerte; vielleicht auch, weil sie anders war als alle, die Mary kannte. Quentin war ein liebevoller Ehemann, der beste, den sie sich wünschen konnte; dass er nicht von Adel war und sie ihrem eigenen Titel entsagt hatte, um ihn zu heiraten, hatte sie noch keinen Augenblick ihres Lebens bereut. Aber aus dem tiefen Abgrund, in den sie nach den Ereignissen des vergangenen Jahres gefallen war, hatte auch er sie nicht befreien können – anders als Brighid.
Vielleicht, weil sie eine Frau war und sich Mary von ihr verstanden fühlte, auch wenn sie über diese Dinge nie gesprochen hatten. Vielleicht aber auch, weil die geheimnisvolle Fremde etwas ansprach, das tief in ihrem Inneren wohnte, an dem selben Ort, von dem auch ihre Träume stammten.
Denn von dem Tag an, da sie Brighid begegnet war, hatte Mary nicht mehr geträumt!
»Vielleicht«, sagte sie, während sie sich zu ihr auf das Sofa setzte, das die Mitte des Salons des Stadthauses einnahm, »sollten wir allmählich auf die förmliche Anrede verzichten. Mein Name ist Mary.«
»Ich weiß«, erwiderte Brighid lächelnd. »Ein schöner Name.«
»Danke.« Mary erwiderte das Lächeln, und es fiel ihr noch nicht einmal schwer. »Glaubst du an Schicksal, Brighid?«
»Was meinst du?«
»Nun, je länger ich darüber nachdenke, desto mehr habe ich das Gefühl, dass es kein Zufall war, dass wir uns auf dem Schiff begegnet sind. Ich glaube daran, dass Gott uns immer dann, wenn wir nicht weiter wissen, einen Engel schickt.«
»Einen Engel?«
»Un ange.« Mary wechselte in Brighids Muttersprache über: »Mir ist so etwas schon einmal passiert. Auch damals begegnete ich solch einem Engel, der mich rettete – in Gestalt einer jungen Frau aus der Vergangenheit.«
»Aus der Vergangenheit?« Verwirrung sprach aus Brighids ozeanblauen Augen. »Das verstehe ich nicht.«
»Das kannst du auch nicht verstehen. Selbst für mich ist es schwer, obwohl ich es selbst erlebt habe.« Mary lächelte. »Aber diese junge Frau – Gwynneth – ist da gewesen. Sie hat mich gerettet, so wie du mich gerettet hast.«
»Nein, das ist nicht wahr«, widersprach Brighid entschieden. »Wenn jemand gerettet wurde, dann bin ich das. Sieh mich doch nur einmal an! Selbst das Kleid, das ich am Körper trage, gehört dir. Ganz abgesehen davon, dass ich nicht hier wäre, wenn sich dein Ehemann nicht für mich verbürgt hätte. Ich weiß ohnehin nicht, wie ich das jemals gutmachen soll.«
»Das musst du nicht«, versicherte Mary. »Es mag dir seltsam erscheinen, aber du hast auch mich gerettet. Bevor ich dich traf, war ich von tiefer Trauer erfüllt. Einer Trauer, die so dunkel war und schwer, dass sie mich in den Abgrund zu reißen drohte.«
»Ich verstehe – wegen Sir Walters Tod.«
»Nein, nicht deshalb.« Sie schüttelte den Kopf. »Wegen einer anderen Sache, die ich nicht …«
Sie unterbrach sich.
Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, die Sache für sich zu behalten, dass es ihr wie Verrat vorgekommen wäre, hätte sie ihr Schweigen jetzt gebrochen. Trauer, Furcht, Scham – all das hatte sie bislang davon abgehalten, jemand anderem als ihrem Ehemann zu berichten, wie es in ihrem Inneren aussah. Ganz abgesehen davon, dass sie sich nicht sicher war, wie Quentin darauf reagieren würde. Er war ein guter Zuhörer und gab sich redlich Mühe, alles Verständnis der Welt für sie aufzubringen, aber er war auch der Ansicht, dass Dinge wie diese innerhalb der Familie bleiben und nicht mit Außenstehenden besprochen werden sollten. Vielleicht, weil er glaubte, dass dann irgendwann alles gut werden würde.
Aber das tat es nicht! Und das Schweigen machte alles nur noch schlimmer. Es drückte sie nieder, ließ sie kaum noch
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