Das Vermächtnis der Wanderhure
Andrej in den Träumen der Fürstin einen besonderen Platz einnahm, genauso wie sie in den seinen. Die beiden waren durch die gemeinsame Flucht aneinander geschmiedet, und Andrej würde nie aufhören, Anastasia zu beschützen. Marie sah das Ganze pragmatisch und sagte sich, dass er die selbst auferlegte Pflicht als Ehemann besser würde erfüllen können, als wenn er der Leibwächter der Fürstin blieb. Andrej war ein kühner Mann und würde sich gewiss einen bedeutenden Platz im Leben erkämpfen. Wenn sich keine andere Aussicht für ihn ergab, konnte er immer noch in die Dienste Kaiser Sigismunds treten, auch wenn es ihm wahrscheinlich schwer fallen würde, einem Lateinerzu gehorchen. Doch in der Not frisst sogar der Teufel Fliegen, dachte sie leicht boshaft, während sie auf den Hof des Bukoleonpalasts traten, in dem bereits zwei Sänften auf Anastasia und sie warteten. Für Andrej hatte man einen falben Hengst mit türkischer Zäumung bereitgestellt.
Der Recke musterte die Träger und die drei Gardisten, die diese begleiteten, und deutete durch eine Berührung seines Schwertgriffs an, dass er auf der Hut sein würde. Seine Anspannung löste sich, als die Sänften im gemächlichen Tempo in Richtung Manganapalast getragen wurden, so dass er nichts anderes tun musste, als neben Anastasias Sänfte herzureiten. Die Menschen, an denen sie vorbeikamen, wichen ehrerbietig aus, und Marie vernahm sogar Segenssprüche, die dem Recken und den Insassen der beiden Sänften galten. Es war so ein krasser Gegensatz zu den Ereignissen am Vortag, an dem sie fast an der gleichen Stelle durch die Straßen gehetzt worden war, dass sie nicht wusste, ob sie darüber lachen oder weinen sollte.
Nicht lange, da passierten sie das von einem Doppelposten bewachte Eingangstor der kaiserlichen Residenz und durchquerten mehrere Vorhöfe, bis sie von Dienern empfangen und unter Dutzenden Bücklingen in die große Halle geführt wurden. Der Manganapalast war ebenso wie der Bukoleonpalast nur einer von vielen Palästen in Konstantinopel, die die Kaiser im Lauf der Zeit errichtet hatten, und auch bei diesem befand sich kaum noch die Hälfte in bewohnbarem Zustand. Dennoch versuchten die Verantwortlichen, den Glanz des alten Imperiums heraufzubeschwören, so verblichen er auch sein mochte.
Der Saal war mit kunstvollen Mosaiken ausgelegt, die Tiere und Menschen in so natürlicher Weise darstellten, als könnten diese jeden Moment aufstehen und herumlaufen. An den Wänden befanden sich Gemälde mit Darstellungen aus der Heiligen Schrift sowie die Bilder verschiedener Heiliger, von denen Marie nur die wenigsten kannte. Unter dem Bild, neben dem sie warten musste,entzifferte sie die Inschrift Nikolaos, Bischof von Myra. Noch während sie nachsann, wer dies gewesen sein mochte, wurde die Gruppe ein Stück weitergeführt, und nun konnte sie einen Blick auf den kaiserlichen Thronsessel werfen, auf dem Johannes VIII. gerade Platz nahm.
Der Herr von Konstantinopel hatte wenig mit seinem kraftvollen Bruder gemein, sondern wirkte mit seiner blassen Haut und Augen, die überall hinblickten, nur nicht in das Hier und Jetzt, eher wie ein Gelehrter oder Geistlicher. Seine Robe glich der eines Bischofs, denn er trug über seinem bis zum Boden reichenden Gewand Pallium und Stola, die anders als bei den Kirchenmännern aus bunt gemustertem Brokat bestanden und mit Halbedelsteinen verziert waren. Auf seinen sorgfältig frisierten Locken saß eine Krone, von der zwei kleine Kreuze über den Schläfen herabhingen.
In der rechten Hand hielt er ein beinahe halbmannslanges Zepter und in der anderen ein kleines goldenes Kästchen, das, wie Andrej ihr zuflüsterte, die Reliquie eines als besonders mächtig geltenden Heiligen enthielt. Den Beistand der himmlischen Kräfte hatte Johannes VIII. wohl auch nötig, denn der Erste, der zur Audienz vorgelassen wurde, war der türkische Pascha, der Prinz Konstantinos am Vortag die Siegesparade verdorben hatte. Sultan Murads Bote trat breitbeinig vor den Kaiser und deutete nicht einmal eine Verbeugung an, als wolle er von vorneherein klarstellen, wer hier der Überlegene war. Johannes VIII. hob die Hand zum Gruß und lächelte, als hätte er einen geehrten Gast vor sich und nicht einen Abgesandten des Feindes. Malwan Paschas Kleidung unterstrich die Machtdemonstration seines Auftretens, denn sein mit Goldstickereien bedeckter Kaftan und die mit Edelsteinen geschmückte Agraffe auf dem voluminösen Turban waren gewiss wertvoller
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