Das Vermächtnis der Wanderhure
ein Wort über die Lippen bringen konnte. Ihr erschien es wie ein Wunder, dass jemand in einer solch dicken Umhüllung atmen konnte, zumal die Sonne hoch am Himmel stand und es allmählich heiß wurde.
Der Dame schien bereits die Stimme zu versagen, denn sie näherte ihren Mund dem Ohr der älteren Frau und hauchte etwas hinein.
Die Matrone streckte den Arm aus und winkte Marie zu sich. Der Sklavenhändler hob bereits den Stock, um dieser Aufforderung Nachdruck zu verleihen, doch Marie trat nach vorne, ehe der Hieb sie treffen konnte. Schließlich war sie selbst daran interessiert, von dem Händler wegzukommen und damit auch von dem Kaufherrn, der Alika geschändet hatte.
»Zeige mir das Kind!«, befahl die Ältere, doch erst als der Sklavenhändler nach Lisa griff, wurde Marie klar, was die Frau wollte, und umklammerte erschrocken die Kleine.
Wieder hob der Mann seinen Stock, doch nun erhob die Dame zum ersten Mal selbst ihre Stimme. »Halt! Du sollst keine Mutter schlagen, nur weil sie Angst um ihr Kind hat. Es ehrt die Frau und zeigt, dass sie noch nicht so tief gesunken ist, wie es Sklaven im Allgemeinen tun. Ist hier niemand, der ihre Sprache versteht?«
Der Kaufherr, der sich bisher im Hintergrund gehalten und nur den Erlös in Empfang genommen hatte, kam auf die Dame zu und verbeugte sich tief. »Euer Diener, Hochwohlgeboren!« Sein Russisch war holprig, aber gut verständlich.
»Wer ist das eigentlich?«, fragte einer der Zuschauer einen anderen und deutete auf die Dame.
Dieser war stolz, sein Wissen teilen zu können, und erklärte es ihm bereitwillig. »Das ist die Herrin Anastasia Iwanowa, das Frauchen des Fürsten Dimitri Michailowitsch von Worosansk, der seinerseits ein Vetter des mächtigen Wassili Wassiljewitsch ist, des Großfürsten von Moskau.«
Fürstin Anastasia erklärte unterdessen dem deutschen Kaufmann, dass sie sich das Kind der Sklavin ansehen wolle. »Sag ihr, es wird ihm nichts geschehen, und ich gebe es ihr auch gleich wieder zurück.« Sie sprach die russische Sprache mit einem solch fremdartigen Akzent, dass der Deutsche ein paarmal nachfragen musste. Doch dann übersetzte er ihre Worte in seine Muttersprache.
Marie begriff, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als auf den guten Willen der Dame zu vertrauen, und reichte ihr Lisa. Die Fürstin nahm das Mädchen jedoch nicht selbst in den Arm, sondern wies eine der sie begleitenden Dienerinnen an, es ihr hinzuhalten. Die Frau wickelte Lisa aus und präsentierte ihrer Herrin den nackten Säugling. Diese zupfte und zerrte an dem Mädchen, als wäre es ein Huhn, bei dem sie sich nicht sicher war, ob es noch zart genug war für einen Braten, nickte dann und deutete der Dienerin an, das Kind zurückzugeben.
Während Marie Lisa erleichtert an sich raffte, tippte die ältere Frau, die so etwas wie eine Haushofmeisterin sein musste, dem Verkäufer mit ihrem Stock gegen die Brust.
»Die Fürstin Anastasia ist auf der Suche nach einer neuen Amme für ihren Sohn. Sie hat sich eigentlich eine jüngere Frau erhofft, die noch nicht so lange geboren hat wie diese hier, doch die Zeit drängt. Der kleine Fürst verträgt nämlich die Ziegenmilch nicht, mit der er derzeit genährt wird.«
Der Kaufherr hörte ihr zu und zwinkerte Marie anschließend grinsend zu. »Hast du ein Glück, Weib! Im Terem einer Fürstin lebt es sich gewiss besser als in dem Hurenhaus, in das ich dich sonst geschickt hätte. Du solltest deinem Schicksal dankbar sein.«
Marie drehte ihm den Rücken zu, denn das, was sie von ihm hielt, konnte sie ihm nicht an den Kopf werfen, sonst hätte sie sich noch im letzten Moment Schläge eingehandelt. Unterdessen feilschte der Auktionator mit der Begleiterin der Fürstin um den Kaufpreis. Diesmal hatte er eine würdige Gegnerin vor sich, denn die alte Frau kämpfte um jeden halben Denga.
Schließlich machte der Kaufherr dem Spiel ein Ende. »Gib ihr das Weib! Der Preis deckt zwar nicht einmal die Kosten für die Überfahrt, aber ich will nicht bis in die Nacht hier herumstehen. Wollen wir hoffen, dass die restlichen Sklaven auf mehr Interesse stoßen.« Der mürrischen Miene zum Trotz, die er dabei machte, war er mit dem Preis für Marie mehr als zufrieden. Ein Bordellwirt hätte ihm weitaus weniger geboten, und für einen wohlhabenden Mann, der neben einer Dienerin auch eine Bettwärmerin suchte, war das Weib zu alt.
Die Vertraute der Fürstin griff in ihre Kleidung und brachte einen bestickten Beutel zum Vorschein, der dem
Weitere Kostenlose Bücher