Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
Nacht schlupfte Jenna einige Meilen weiter in einer Scheune unter. Am Morgen stand sie bei Sonnenaufgang auf und machte sich sofort auf den Weg, um möglichst viel Abstand zwischen sich und die Schänke Zum lustigen Landmann zu bringen.
Wie immer ließ sich Jenna, bevor sie aufbrach, von dem kleinen Silbertalisman die Richtung zeigen. Die Pfeilspitze wies nach wie vor in Richtung Nordwesten. Da sie bislang noch niemandem begegnet war, dem etwas Ungewöhnliches aufgefallen war, hatte Jenna keine Ahnung, ob sie dem Dämon näher kam. Er konnte dreihundert Meilen weg sein oder an der nächsten Straßenecke auf sie lauern. Sie konnte nur hoffen, dass sie schneller war als das Monster. Im zackigsten Marschschritt, den sie dauerhaft durchhalten konnte, wanderte Jenna quer über die Felder.
Nach etwa einer Stunde gelangte sie zum nächsten Dorf. Sie überlegte gerade, ob sie weitergehen oder haltmachen sollte, da nahm ihr der Duft frisch gebackenen Brotes die
Entscheidung ab. Es war noch früh am Morgen, als sie in das Dorf kam, und kaum jemand war unterwegs. Kurz entschlossen folgte Jenna dem verlockenden Duft bis zur Bäckerei.
Da Türen und Fensterläden geschlossen waren, klopfte Jenna an. Der Bäcker, gleich zu erkennen am Mehl an der Schürze und an den Händen, öffnete die Tür. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Ah!«, rief er erfreut aus. »Du musst das Mädel sein, das gestern Abend Merklin und seinen Kumpanen im Lustigen Landmann eins auf die Nase gegeben hat. Komm nur rein.«
Jenna machte eine reumütige Miene, folgte aber der einladenden Geste des Bäckers und betrat das Haus.
»Neuigkeiten sprechen sich bei euch aber schnell herum«, sagte sie.
»Schneller als der Wind, heißt es«, erwiderte der Bäcker schmunzelnd. »Aber keine Sorge, Mädel, ich übergebe dich nicht den Gendarmen.«
»Suchen sie etwa nach mir?«, fragte Jenna überrascht.
»Aber ja doch«, nickte der Bäcker. »Du bist eine kaltblütige Mörderin, eine Kriminelle, die quer durch Shandar flieht, nachdem sie in ihrer Heimatstadt erst einen Soldaten und danach noch mehrere andere Menschen umgebracht hat. Zumindest hat Merklin das den Dorfwächtern auf die Nase gebunden. Anschließend haben sie die Geschichte vor den Gendarmen noch einmal gewaltig aufgeblasen. Mittlerweile bist du wahrscheinlich eine professionelle Auftragsmörderin, mindestens zwei Meter groß und bis zu den Zähnen bewaffnet.«
Jenna schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte.
»Wenn sich das so schnell herumspricht, warum übergibst du mich dann nicht den Gendarmen?«, fragte Jenna
argwöhnisch. Sie war sich nicht sicher, ob sie womöglich in eine Falle getappt war.
Der Bäcker war groß und schlank, ja, fast dürr – ungewöhnlich für einen Menschen, der den lieben langen Tag mit Nahrungsmitteln zu tun hatte. Seine Finger waren lang und spirrlig wie Spinnenbeine. Das hagere Gesicht verbreitete jedoch eine Fröhlichkeit, die nicht recht zum Rest seiner Erscheinung passen wollte. Die weit auseinander stehenden Augen, die kleine Stupsnase und der breite Mund fügten sich mit den spitzen Wangenknochen und den eckigen Augenbrauen zu einem freundlichen, warmherzigen Gesicht zusammen.
»Na ja, erstens glaube ich Merklin, Toni oder Bradder kein Wort. Gestern Abend war zufällig auch Tami, die Tochter des Müllers, mit einer Freundin in der Schänke. Sie hat ihrem Vater eine ganz andere Version erzählt und die hat er mir heute Morgen berichtet. Dieser Merklin sitzt ständig in der Tinte und meistens brockt ihm das sein Kumpel Bradder ein. Die trinken mehr, als sie vertragen, eine Schande für ihre Familien und ihr Dorf. Wegen denen würde ich dich ganz bestimmt niemandem ausliefern. Das Problem ist, dass du nicht von hier bist. Und da in Niederfenn ein Mann umgebracht wurde, kann man es den Gendarmen nicht verübeln, dass sie hinter dir her sind. Immerhin hat dich Merklin des Mordes beschuldigt.«
»Umgebracht?«, fragte Jenna heftig. »Wie ist das geschehen?«
»Schwer zu sagen«, sagte der Bäcker nachdenklich. »Der Mann war übel zugerichtet, als man ihn fand. Deshalb wissen sie nicht ob er einem wilden Tier oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.«
Jennas Herz setzte bei diesen Worten einen Schlag aus. Das könnte das Werk des Dämons sein.
»Wo ist denn dieses Niederfenn und wann wurde der Mann gefunden?«, fragte sie bemüht beiläufig.
Der Bäcker musterte sie mit einem misstrauischen Blick, so als sei er plötzlich
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