Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
wir in die falsche Richtung gefahren waren. Aber jetzt habe ich keine Ahnung, wo ich mit Suchen anfangen soll.«
Simen schwieg und sah Jon an. Und dann sah er zu Leopold, der sich in den Schnee gelegt hatte und schwer atmete.
»Ist Ihr Hund krank? Er sieht krank aus.«
»Ja«, sagte Jon.
»Und Almas Oma ist tot?«
»Ja«, sagte Jon.
»Und Irma ist weggezogen?«
»Das stimmt«, sagte Jon.
»Sie war gemein«, sagte Simen. »Meine Mutter sagt, dass sie ein netter Mensch war, obwohl sie so groß war und im Dunkeln geleuchtet hat, aber das war sie nicht.«
»Nein, das war sie wohl nicht«, sagte Jon.
»Ganz sicher nicht«, sagte Simen, dann drehte er sich um und rannte davon.
Leopold lag immer noch im Schnee, ein schwarzer Fleck in all dem Weiß, und Jon zog vorsichtig am Halsband und sagte: »Komm, Leopold, komm jetzt«, und Leopold hob seinen schweren Hundekopf und sah ihn an, und Jon wünschte sich, er könnte sich neben Leopold in den Schnee legen, sich an ihn schmiegen, die Wärme seines Körpers und das Fell spüren, und einfach liegen bleiben.
»Komm, wir gehen«, sagte Jon, und Leopold stand auf und wimmerte ein wenig, er hatte Schmerzen, auch wenn er sie nicht zeigen wollte. Jon hätte ihn gern getragen, aber Leopold war zu groß und zu schwer.
Langsam gingen sie die Straße hinauf. Schnee und Stille. Doch wie langsam Jon auch ging, Leopold hatte große Mühe mitzuhalten, und Jon sagte, als wollte er ihn trösten, ob es nicht komisch sei, dass die Straße Svingen heißt, die Kurve, und nicht Svingene , die Kurven. Jon betrachtete Leopold.
»Es ist immer viel, viel weiter, als man denkt«, sagte er. »Aber gleich sind wir daheim.«
Mittlerweile war es 2011 geworden. Jon und Siri und die Kinder hatten Silvester in aller Stille in Mailund gefeiert. Um zwölf ging auf Jons Handy eine SMS ein.
Es gibt nichts, woran man glauben könnte. A.
Liv hatte eine Wunderkerze bekommen und war damit hinaus in den Schnee gelaufen. Alma stand neben ihren Eltern und sah Liv vom Fenster aus zu. Keiner von ihnen sagte ein Wort. Jon fiel auf, dass Alma größer geworden war. Das Kleine und Rundliche an ihr war im Begriff zu verschwinden und ein anderes Gesicht freizulegen. Eine andere Alma. Sie schminkte sich mit kräftigen Strichen um die Augen und benutzte weißen Puder im Gesicht – es sah ziemlich dramatisch aus. Wie ein Junge, der in einem Mittelalter-Theaterstück ein Mädchen spielt. In diesem Jahr würde sie sechzehn werden. Sie nannten sie immer noch Stoppelchen, aber der Name passte nicht mehr so gut. Alma selbst hatte ohnehin nie gehört, dass ihre Eltern sie so nannten.
Alle drei standen nebeneinander und beobachteten Liv draußen im Schnee, sie bewegten sich nicht. Der Himmel war schwarz.
Alma holte tief Luft.
»Wisst ihr, dass ich auf Milles Beerdigung war?«, fragte sie. »Ich war da. Ihr wart nicht da, aber ich.«
Jon und Siri drehten sich zu ihrer Tochter um. Sie stand da und sah aus dem Fenster.
»Ich habe sie in der Nacht gesehen«, sagte sie.
Siri schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Alma«, sagte sie, »wir wussten nicht …«
»Ich saß neben Oma im Auto«, fuhr Alma fort, »und wir rasten die Straße hinauf, und ich sagte stopp , und Oma hielt, und wir drehten uns um, und ich sagte, dass Mille dort am Straßenrand sitzt, sollen wir sie mitnehmen, und Oma sagte, wer , und ich dachte, dass Mille vielleicht nicht wollte, dass wir sie so sahen, wie sie am Straßenrand saß, dass sie allein sein wollte, dass es ihr nur peinlich wäre, wenn sie mitbekäme, dass wir sie sehen, es waren ja nur noch wenige Meter bis zum Haus, und Oma sagte, wer sitzt am Straßenrand, und ich sagte, niemand , fahr weiter, da ist niemand, vergiss es, und dann fuhr sie weiter.«
Und Jon und Siri drehten sich zu Alma um, und Alma begann zu weinen, und in dem Moment stürmte Liv herein und rief zum tausendsten Mal an diesem Tag: »Frohes neues Jahr, euch allen!«
Am nächsten Morgen packte Siri Taschen über Taschen, zog die Betten ab, leerte den Kühlschrank, leerte den Vorratsschrank, leerte die Schubladen, packte alle Lebensmittel in Papiertüten, um sie mit nach Oslo zu nehmen, es war nicht mehr viel übrig, aber Siri warf niemals Lebensmittel weg, und dann putzte und saugte sie die Böden, fegte die Treppe, alle Stufen, nahm einen Lappen und wischte damit über das Geländer.
Jon war in der Garage gewesen und hatte nachgeschaut, ob alles in Ordnung war, er hatte die Plane über dem Opel
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