Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Flur stand und bei Leopolds Anblick wie verrückt bellte. Jon wurde sich plötzlich seiner Umgebung bewusst, wo genau er hier stand, all der Dinge, die ihn umgaben, der Szene, die sich abspielte: der Garderobenschrank von IKEA , die bunten Körbe mit Schals und Handschuhen und Mützen – ein Korb für ihn, einer für Siri, einer für Liv und einer für Alma –, die schwarzen Steinfliesen, die Fußbodenheizung, die nicht funktionierte und nie funktioniert hatte, die Schuhe und Stiefel und die Cherrox der Kinder, die eigentlich im Schuhregal stehen sollten, aber nie im Schuhregal standen, nasse Socken und Strumpfhosen, eine verschmutzte Kinderzeichnung von einem rosa Mädchen unter einer strahlend gelben Sonne, signiert von LIV , der Stapel alter Zeitungen, die Tüten mit den leeren Flaschen. Und mittendrin, in Siris und Jons Diele, stand der Kläffer der Kulturjournalistin Irene und bellte Leopold und Jon an. Als wären sie die Eindringlinge.
»Warum hast du deinen Hund mitgebracht?«, fragte Jon.
»Julius musste an die frische Luft«, sagte Irene, zog an der Leine und versuchte, die Kontrolle über das Tier zu erlangen. »Ich konnte ihn nicht den ganzen Tag allein lassen«, fügte sie hinzu.
»Du sollst hier gar nicht den ganzen Tag bleiben!«, fiel Jon ihr ins Wort.
Er versuchte, sich diese Frau, die Kulturjournalistin Irene, mit gespreizten Beinen auf dem Sofa vorzustellen. Aber sie sah nicht so aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Sie hatten sich vor wenigen Wochen hastig in einem Café getroffen, und er hatte sie seither mit SMS und Mails überhäuft. Was er alles mit ihr machen wollte. Was er alles mit ihr machen wollte . Er war Feuer und Flamme gewesen auf dem Heimweg vom Café. Ja, genau. Feuer und Flamme. Doch die Frau, die jetzt hier stand, in seiner und Siris Diele, war dicklich und hatte den Anflug eines Schnurrbarts.
Leopold saß still neben Jon und starrte den Kläffer an. Das Gebell wollte kein Ende nehmen. Jon dachte an die Nachbarin. Er wusste, dass Emma, die Wand an Wand mit ihm wohnte, tagsüber zu Hause war und an ihrer Doktorarbeit saß. Emma hörte sicher alles.
»Heißt dein Hund Julius?«, fragte Jon.
»Ja …«
»Wie der Affe?«, fuhr er fort.
»Nein, daran hatte ich nicht gedacht …«
»Warum nicht Brutus?«
»Nein …«
Irene konnte nicht weiterreden. Denn jetzt sprang Leopold auf und fletschte die Zähne. Er stürzte sich auf den kleineren Hund und packte ihn im Nacken, schüttelte ihn von einer Seite zur anderen. Irene schrie und zog an der Leine, der Kläffer fiepte, und Jon stürzte sich auf Leopold und konnte ihn schließlich wegziehen und in sein Arbeitszimmer auf dem Dachboden bringen.
»Kläffer!«, fauchte er auf dem Weg die Treppe hinauf. »Fellkugel! Kleine Ratte.«
Jon tätschelte Leopold und kraulte ihn hinter dem Ohr.
»Warte hier«, flüsterte er. »Guter Hund.«
Er schloss die Tür hinter sich und rechnete damit, die Diele in ein Schlachtfeld verwandelt zu sehen, wenn er wieder nach unten kam, mit Blut und Hunderesten überall. Aber alles war gutgegangen. Keine Toten. Keine Verletzten.
»Das war vielleicht keine gute Idee«, sagte Irene, als sie ihn auf der Treppe erblickte.
Sie hielt ihre Fellkugel wie ein Baby auf dem Arm. Ihm fiel auf, dass sie sich im Flur umsah. Was glotzt sie so, verdammt noch mal? Unsere Unordnung? Jon hob Livs Zeichnung auf, sie lag halb unter einem Stiefel, und strich sie gerade. Das rosa Mädchen lächelte. Die gelbe Sonne auch.
»Ich glaube, ich gehe besser«, sagte Irene.
Jon räusperte sich, faltete das Bild zusammen und steckte es in die Hosentasche.
»Kannst du nicht noch einen Moment bleiben«, sagte er, »dann koche ich uns einen Kaffee.«
Er hoffte, sie würde nein sagen. Und gehen. Sie hatte gesagt, sie würde gehen, dazu sollte sie gefälligst auch stehen. Aber sie nickte und sagte: »Kaffee wäre nicht schlecht – und vielleicht auch etwas Wasser für Julius. Der Überfall hat ihm ziemlich zugesetzt.«
Sie kam auf ihn zu, lächelte. Hielt die etwas zu dick geratene Ratte auf dem Arm, eine leicht schräge Parodie des Renaissance-Gemäldes Madonna mit Kind.
»Du solltest deinen Hund etwas besser im Griff haben«, sagte sie sanft und streichelte ihm die Wange. »Sonst kommt es noch so weit, dass er eingeschläfert werden muss.«
Doch jetzt ging es um die andere Frau: mit der er diesen Sommer in SMS -Kontakt stand, deren Häuschen sich unten in der Straße befand, die er seit seinem fünfzehnten Lebensjahr kannte.
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