Das Versprechen
doch gegen so viele Gegner hatte er nicht die geringste Chance, das wusste Lou genau. Sue wieherte, stieg immer wieder hoch und drehte sich, bis Lou plötzlich das Gefühl hatte, jeden Moment herunterzurutschen. Der Rücken der Stute kam ihr auf einmal so schmal vor wie das Seil eines Akrobaten - ein sehr glitschiges Seil, denn das Pferd schwitzte nach dem langen Ritt.
Ein Hund aus dem Rudel schnappte nach Lous Bein, und sie zog es hoch. Das Tier prallte gegen einen von Sues Hufen und war für einen Moment benommen. Doch es waren viel zu viele. Knurrend umkreisten die entsetzlich mageren Halbwölfe Lou, Jeb und Sue. Jeb wagte einen Angriff, doch eine der Bestien schleuderte ihn zur Seite, und er wich mit blutigem Fell zurück.
Und dann schnappte ein weiteres Tier nach Sues Vorderbein, und wieder stieg die Stute hoch. Und als ihre Hufe diesmal auf die Erde prallten, war sie reiterlos, denn Lou hatte den Halt verloren, war auf den Waldboden gestürzt und lag nun hilflos da, nach Atem ringend. Augenblicklich schlug Sue den Heimweg ein, doch Jeb stand unerschütterlich vor dem gestürzten Mädchen, offensichtlich bereit, sein Leben für Lou zu lassen. Das Rudel rückte näher, als ahnten die Bestien, dass ihnen hier eine leichte Beute winkte. Trotz der rasenden Schmerzen in Schultern und Rücken richtete Lou sich auf. Sie hatte noch nicht mal einen Stock in Reichweite. Lou und Jeb wichen zurück, bis es nicht mehr weiter ging. Und während sie sich darauf vorbereitete, kämpfend zu sterben, konnte sie an nichts anderes denken als daran, dass Oz nun ganz alleine war, und Tränen traten ihr in die Augen.
Der Schrei war wie ein Netz, das über sie geworfen wurde, und die Halbwölfe fuhren herum. Selbst der größte von ihnen, fast so groß wie ein Kalb, duckte sich, als er sah, was auf sie zukam. Der Berglöwe war groß und geschmeidig, die Muskeln spielten unter seinem schwarzen Fell. Er hatte bernsteinfarbene Augen, und seine Reißzähne waren doppelt so groß wie die der Wolfshunde. Auch seine Klauen waren riesig und furchteinflößend. Die Bestie kreischte erneut, als sie auf den Pfad gelangte und mit der Gewalt eines Güterzugs auf das Rudel losstürmte. Die Halbwölfe wirbelten herum und suchten das Weite, und die Raubkatze folgte ihnen und stieß bei jedem geschmeidigen Sprung einen wütenden Schrei aus.
Lou und Jeb rannten nach Hause, so schnell sie konnten. Etwa eine halbe Meile von der Farm entfernt hörten sie erneut ein Rascheln und Knacken im Unterholz. Wieder sträubte sich Jebs Fell, und Lou blieb fast das Herz stehen. Sie sah die bernsteinfarbenen Augen der Wildkatze in der Dunkelheit funkeln, während sie parallel zu ihnen durch den Wald huschte.
Dieses schreckliche Raubtier konnte das Mädchen und den Hund binnen Sekunden zerfetzen. Und dennoch lief die Katze bloß neben ihnen her, ohne Anstalten zu machen, aus dem Dickicht hervorzukommen. Die Geräusche ihrer Tatzen im Laub und das Leuchten der gelben Augen, die durch die Finsternis zu schweben schienen, waren die einzigen Anzeichen dafür, dass die Bestie noch in der Nähe war, denn ihr Fell verschmolz völlig mit dem Dunkel der Nacht.
Lou stieß einen dankbaren Schrei aus, als das Farmgebäude vor ihnen erschien, und sie und Jeb rannten zur Veranda und hinein in die Sicherheit des Hauses. Niemand empfing sie; vermutlich war Cotton schon lange fort. Schwer atmend trat Lou ans Fenster, doch von der Raubkatze war nichts mehr zu sehen.
Immer noch am ganzen Leib zitternd, ging Lou durch den Flur. Vor der Tür zum Zimmer ihrer Mutter blieb sie stehen und lehnte sich dagegen. Heute Nacht hatte sie dem Tod ins Auge geschaut. Es war eine schreckliche Erfahrung, furchtbarer noch als der Autounfall, denn in diesem Augenblick höchster Gefahr war sie ganz allein gewesen.
Lou öffnete die Tür, schaute ins Zimmer und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass das Fenster offen war. Sie ging ins Zimmer, schloss es und drehte sich zum Bett um. Einen kurzen, benommenen Augenblick lang konnte Lou ihre Mutter nicht unter der Decke erkennen, aber da war sie natürlich, stumm und leblos wie immer. Lous Atem beruhigte sich, und das Zittern ließ nach, während sie sich dem Bett näherte. Amanda atmete flach. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihre Hände waren beinahe zu Fäusten geballt, als würde sie unter schlimmen Schmerzen leiden. Lou berührte sie und zog die Hand rasch wieder zurück. Die Haut ihrer Mutter war feucht und klamm. Lou flüchtete aus dem Zimmer und
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