Das Versprechen des Opals
begraben.
Miriam und Gladys standen schweigend am Grab und hielten einander bei der Hand. Es war früh am Morgen des folgenden Tages, und das kleine weiße Kreuz leuchtete vor der roten Erde und dem hellgrünen Gras. Die Blumen, die sie auf den winzigen Erdhügel gelegt hatten, waren feucht vom Tau und funkelten im Glanz des Sonnenaufgangs, und der geisterhafte Ruf des Glockenvogels wehte über das Land wie ein wunderschöner Psalm.
Miriam fiel auf die Knie; sie konnte die Qualen nicht länger ertragen. Der Damm brach, und der Schmerz flutete aus ihr hervor: ein langer, qualvoller Schrei, der von den Hügeln ringsum widerhallte, ihr Leid verstärkte und das Tal von Bellbird erfüllte. Es sollte das letzte Mal sein, dass sie weinte.
Miriam öffnete die Augen und sah verwundert, dass es immer noch dunkel war. Die Erinnerungen erschienen immer nochreal; es war, als fühle sie die Wärme der Sonne und die ziellose Brise, die an diesem furchtbaren Tag ihr Gesicht liebkost hatte. Es war kalt und dunkel, die stillste Stunde der Nacht. Sie war nie besonders religiös gewesen, und so hatte sie Mühe, sich an den Vers aus der Bibel zu erinnern, den sie auf dieser grässlichen Damenschule hatte lernen müssen.
»Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist«, flüsterte sie in die Nacht.
Für sie war dies die Zeit, sich zu erinnern, die Leiden und Freuden ihres Lebens heraufzubeschwören und zu betrachten. Sie hatte nur ihren Sohn begraben können, und es gab keinen greif baren Beweis für die Existenz der andern, nur Erinnerungen. Vater war verschwunden, Kate und George waren im Meer versunken, und Edward war nie nach Hause gekommen.
Sie nahm das alles hin, und eine tiefe Ruhe kam über sie. Bald, dachte sie, werde ich sie wiedersehen.
SECHZEHN
J ake hatte gut geschlafen und sogar das nächste von Kates Tagebüchern fast ganz gelesen, als die Sonne aufging. Die Handschrift war schwer zu entziffern, und einiges war verblichen, aber die Tagebücher waren eine unschätzbare historische Quelle, und mittlerweile bewunderte er diese zähe kleine Irin, die so viel erreicht hatte. Als er geduscht und sich angezogen hatte, ging er über den Hof zum Haus. Er freute sich auf das Frühstück. Vielleicht ist Fiona da, dachte er hoffnungsvoll. Es war ziemlich gemein von mir, sie gestern Abend so zu necken.
»Ich muss Sie sprechen.« Miriam erschien unter den herabhängenden Wedeln des Pfefferbaums. »Rasch, kommen Sie hier herein, und seien Sie leise.«
Jake strahlte. Nach einer kleinen Verschwörung gleich am frühen Morgen würde das Frühstück noch besser schmecken. Miriam hatte sich offensichtlich von ihrem Schock erholt und war wieder guter Dinge.
»Kommen Sie schon, beeilen Sie sich!«, zischte sie. »Ich hab nicht den ganzen Morgen Zeit.«
Jake schob den Laubvorhang beiseite und trat in den kühlen Schatten. »Was gibt ’s denn?«, flüsterte er. »Haben Sie was gefunden?«
»Ja und nein«, antwortete sie knapp und rätselhaft. »Lesen Sie das, und sagen Sie mir, was Sie davon halten.«
Jake nahm das Notizbuch und überflog die Seite. Es war kein Tagebuch, erkannte er, sondern ein Verzeichnis von An- und Verkäufen, die Kate auf ihrer Rundreise durch die Diggercamps getätigt hatte. Die Handschrift war penibel, die Buchführung detailliert. »Ich begreife nicht, was das mit der Sache zu tun hat.« Er schaute sie ratlos an.
»Blättern Sie um!«, befahl Miriam.
Er gehorchte, und jetzt begriff er, warum sie so aufgeregt war. »Ich sehe, was Sie meinen«, sagte er nachdenklich. Er las Hoffnung und Begeisterung in ihrem Gesicht und wollte sie nicht enttäuschen. Wie sollte er ihr sagen, dass es immer noch nicht genügte?
»Es ist wohl nicht das, was Sie erwartet haben?«, sagte sie bestürzt. »Ich seh ’s Ihnen an.« Enttäuscht schüttelte sie den Kopf. »Sie brauchen mich nicht zu schonen, Jake. Ich bin alt genug, um die Wahrheit zu vertragen.«
»Das hier sind ausgezeichnete Hintergrundinformationen, und im Zusammenhang mit ein oder zwei Tagebucheinträgen, die ich gerade lese, werde ich es bei Gericht wohl verwenden können. Die Verteidigung wird es zweifellos als unzulässig betrachten und beantragen, dass es als Beweismaterial abgelehnt wird. Aber wir werden sehen.« Er klappte das Buch zu. »Mehr kann ich Ihnen leider nicht versprechen.«
Sie kam einen Schritt näher. »Sie sind ein guter Mann,
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