Das verstummen der Kraehe
Rücken.
Vor etwas mehr als zwei Jahren hatte ich seine Hände zum ersten Mal gespürt. Fast doppelt so lange war es her, dass ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Aber er war damals nicht allein ins Nebengebäude gezogen, sondern mit seiner langjährigen Freundin, die ihm in jeder freien Minute geholfen hatte, seine Weinhandlung aufzubauen. Um mein Herz zu schonen, war ich ihm konsequent aus dem Weg gegangen, bis mein Vater eines Tages mit der Neuigkeit gekommen war, die beiden hätten sich getrennt. Von da an war ich regelmäßig über den Hof gegangen, um eine Flasche Wein bei ihm zu kaufen. Erst als ich kaum noch wusste, wohin mit all den Flaschen, gab Simon mir zu verstehen, dass ich mein Portemonnaie beim nächsten Mal zu Hause lassen könnte.
Ich nahm seine Hände, hielt sie einen Augenblick lang fest und gab ihm einen schnellen Kuss. »Hast du heute Abend Zeit?«
Er schüttelte den Kopf. »Rotweinprobe beim Kunden.«
»Und danach?«
»Danach stehst du schon fast wieder auf. Wie ist eigentlich die Neue?«
»Sehr sympathisch, schnell im Kopf und alles andere als faul. Wenn sie in dem Tempo weitermacht, ersetzt sie eine Ganztagskraft.«
»Falls sie noch Kapazitäten frei hat …«
»Henrike hat auch schon zart angeklopft.«
»Ich traue Henrike ja einiges zu, aber zart?«
»Ich mag ihre direkte Art.«
»Ich persönlich auch. Aber das Direkte und Unverblümte muss man sich auch leisten können. Es gibt Kunden, die das abschreckt. Ihr Trödelladen könnte bestimmt besser laufen, wenn sie diplomatischer wäre.«
»Hast du nicht mal gesagt, Diplomatie sei etwas für Leute, die sich für keine Seite entscheiden könnten?«
»Solche Aussagen kommen immer auf den Kontext an.« Er unterstrich seine Worte mit einer ausladenden Geste, was Rosa animierte, an ihm hochzuspringen. Er wollte sie gerade streicheln, als seine Hand zurückzuckte. »Oje, das hätte ich beinahe vergessen.«
Sein übertrieben schuldbewusster Gesichtsausdruck brachte mich zum Lachen. Simon und ich hatten oft Diskussionen darüber, dass er Rosa verzog. Wenn sie an ihm hochsprang und er sie streichelte, belohnte er sie für etwas, das sie eigentlich nicht durfte. Aber das störte weder ihn noch Rosa. Er machte Anstalten aufzubrechen, doch ich hielt ihn zurück.
»Simon, erinnerst du dich möglicherweise an einen Mordfall vor sechs Jahren? Damals wurde hier in München ein Journalist umgebracht, Konstantin Lischka. Die Zeitungen waren voll davon. Verurteilt wurde sein Freund, der sich später im Gefängnis umgebracht hat. Seine Frau hat immer an seine Unschuld geglaubt.«
Simon lehnte sich gegen den Transporter und sah in den Himmel, während er nachdachte. »Ja … War der Mörder nicht Arzt? Ich glaube, ich habe darüber gelesen. Wieso interessierst du dich dafür?«
»Die Frau dieses Arztes ist vor Kurzem gestorben und hat mich als Testamentsvollstreckerin eingesetzt. Das Vermögen, das sie hinterlässt, kann sich sehen lassen, aber es gibt da ein Problem …«
Simon unterbrach mich. »Weil ihr Mann ein verurteilter Mörder war? Es ist doch ihr Vermögen, das du verteilen sollst. Du könntest dir endlich ein neues Auto leisten.«
»Ich bin mit der alten Gurke sehr zufrieden.«
»Dein Auto hat nur mit viel Glück die grüne Plakette bekommen.«
»Umweltplaketten hängen nicht von Glück ab, sondern von knallharten Bedingungen, die erfüllt werden müssen.«
»Kris, du bist ein Dickschädel. Dein Golf hat fast zweihunderttausend Kilometer drauf, bald ist Winter und …«
»Theresa Lenhardt erwartet von mir, dass ich beweise, dass keiner ihrer fünf möglichen Erben Konstantin Lischka umgebracht hat. So, wie ich das Testament verstehe, geht sie davon aus, dass die Verurteilung ihres Mannes ein Justizirrtum war und einer der fünf der Mörder sein muss. Meine innere Stimme rät mir, besser die Finger davon zu lassen.«
In diesem Moment fegte Rosa mit lautem Gebell Richtung Garten. Vermutlich hatte sich eine der Nachbarskatzen gerade dort blicken lassen.
»Es wird nicht leicht gewesen sein als Ehefrau und Witwe eines verurteilten Mörders«, sagte Simon. »Die Frau hat sich ihr Leben bestimmt anders vorgestellt und vielleicht mit der Zeit die Realität so sehr verfremdet, dass sie schließlich von der Unschuld ihres Mannes überzeugt war. Das ist menschlich, wenn du mich fragst. Ich möchte nicht wissen, wie vielen Angehörigen von Kriminellen es so geht.«
»Mir würde es vermutlich genauso gehen.«
»Siehst du.
Weitere Kostenlose Bücher