Das verstummen der Kraehe
für jeden einzelnen der Erben bürgen. In Theresas Testament steht nichts davon, dass das Ergebnis, zu dem Sie kommen, von irgendjemandem kontrolliert werden würde. Sie müssten nur …«
»Bezeugen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist, und meine Unterschrift unter die entscheidenden Dokumente setzen? Ich glaube, ich muss die Vorstellung, die Sie allem Anschein nach von meiner Arbeitsweise haben, ein wenig korrigieren. Ich arbeite im Auftrag der Toten und nicht als Geschenketante für ungeduldige Erben. Und wenn ich mich jetzt nicht beeile, komme ich zu spät zu meinem Termin.«
Sie baute sich vor meinem Rad auf. »Frau Mahlo, wie alt sind Sie? Ende zwanzig? Anfang dreißig? Ich tippe mal darauf, dass Sie noch nicht so oft eine Erbschaft in der Größenordnung von Theresas auf dem Tisch hatten. Seien Sie nicht naiv, greifen Sie zu, wenn sich Ihnen eine solche Chance bietet. Wir alle werden Sie nach Kräften unterstützen.«
Fast hätte ich laut gelacht. Ich konnte sie schon längst nicht mehr zählen – all die Erben, die mich nach Kräften unterstützen wollten. »Sie hören entweder vom Nachlassgericht oder von mir. Bis dahin müssen Sie sich ein wenig gedulden.« Ich winkte ihr zu und trat in die Pedale.
Als ich an St. Georg vorbeifuhr, blinzelte ich gegen die Sonne hinauf zur Kirchturmuhr: Es war kurz nach vier. Mir blieb noch genug Zeit, um es rechtzeitig zu meiner Verabredung mit Marianne Moser zu schaffen. Hinter der Kirche mit ihrem kleinen Friedhof bog ich in den Fahrradweg, der ein Stück die Würm entlang verlief.
Mit achtzehn war ich mit dem festen Vorsatz aus dem hessischen Frankenberg weggegangen, mich fortan nur noch inmitten pulsierender Großstädte zu tummeln. Acht Jahre später war ich unfreiwillig in Obermenzing gelandet. Obwohl es zum Münchner Stadtgebiet zählte, war von Großstadtflair keine Spur. Dafür gab es Hähne, die in aller Herrgottsfrühe lautstark den Tag begrüßten. Hier hatte ich gelernt, dass man manchmal versucht, dem Vertrauten zu entkommen, nur um in der Fremde festzustellen, wie vertraut einem manches ist.
Je weiter ich mich der Schleuse näherte, desto lauter wurde das Rauschen der Würm. Ich passierte den Zehentstadel, in dem früher der Dorfälteste die Steuer für die Gutsherren eingesammelt hatte und der heute als Veranstaltungsort diente. Kurz darauf öffnete sich der Blick auf Schloss Blutenburg. Auf der Wiese vor dem Schlossteich spielte eine Handvoll Jungen lautstark Fußball. Ein Stück weiter hatten sich Sonnenanbeter eine Decke ausgebreitet. Die Tische vor der Schlossschänke waren alle besetzt. Als ich wieder auf den Weg vor mir sah, musste ich eine Vollbremsung machen, um nicht einen altersschwachen Dackel zu überfahren. Ich rief der schimpfenden Besitzerin eine Entschuldigung zu und radelte weiter. Das hinter hohen Bäumen verborgene Mönchskloster ließ ich links liegen und bog auf die Straße, die parallel zur Würm verlief. Keine fünf Minuten später erreichte ich die Marsopstraße. Hundert Meter weiter lag das Eckhaus, das offensichtlich acht Parteien beherbergte. Hier wohnte Marianne Moser, und hier hatte auch Theresa Lenhardt bis zu ihrem Tod gewohnt.
Die Marsopstraße mit ihren Villen aus der Zeit der Jahrhundertwende zählte in Obermenzing zum begehrten Wohngebiet. Das weiß getünchte, moderne Gebäude mit den verglasten Balkonen wirkte jedoch eher durchschnittlich und hätte überall stehen können. Alles in allem würde Theresa Lenhardt ihren Erben vermutlich einen zweistelligen Millionenbetrag hinterlassen. Im Vergleich dazu hatte sie bescheiden gewohnt.
Ich drückte den Knopf neben Marianne Mosers Namen. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Stimme über die Gegensprechanlage meldete und mir den zweiten Stock als Ziel nannte. Als der Summer ertönte, drückte ich die Tür auf. Im Treppenhaus, in dem hintereinander aufgereiht zwei Kinderwagen standen, musste vor Kurzem geputzt worden sein, es roch nach Putzmittel. Die Wohnungstüren, an denen ich vorbeikam, wirkten wie Kontrapunkte zu der äußerlichen Uniformität des Hauses. Vor einer warnte eine Fußmatte vor der desperate housewife , an der nächsten hing ein von Kinderhand bemaltes DIN-A4-Blatt, das einen plastischen Eindruck vom Körpergewicht der jeweiligen Bewohner vermittelte.
Im zweiten Stock stand eine Tür einen Spaltbreit offen. Bevor ich sie aufstieß, vergewisserte ich mich mit einem Blick auf das Klingelschild, dass ich tatsächlich bei Marianne Moser
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