Das verstummen der Kraehe
mit jemandem getroffen? Wenn ja, mit wem? Wir wären für den kleinsten Hinweis dankbar gewesen. Aber mit dem Verschwinden eines vierundzwanzigjährigen Homosexuellen hatten sich keine Schlagzeilen machen lassen.
Also hatte ich ein Plakat entworfen und es an unzählige Bäume in und um München geheftet. Ich hatte ein Flugblatt vervielfältigt, das ich in Geschäften und Kneipen ausgelegt hatte. Uns hatten daraufhin sogar zahlreiche Hinweise erreicht, denen wir akribisch nachgegangen waren, nur um festzustellen, dass das Personengedächtnis der meisten Menschen wenig zuverlässig ist.
Ich drängte die Erinnerung zurück und konzentrierte mich wieder auf die Medienberichterstattung über den Fall Konstantin Lischka. Darin tauchte mehrmals der Name Theresa Lenhardt auf. Meine Auftraggeberin über den Tod hinaus war die Ehefrau des verurteilten Mörders gewesen. Wie aus den Artikeln hervorging, hatte sie für seine Rehabilitierung gekämpft. Vergebens. Und jetzt sollte ich diesen Kampf fortsetzen? Weil sie es nicht hatte ertragen können, die Frau eines Mörders zu sein?
Fritz Lenhardts Name ergab ebenfalls zahlreiche Treffer. Gemeinsam mit zwei Kollegen, einem Mann und einer Frau, hatte er in München auf der Fürstenrieder Straße ein Kinderwunschinstitut betrieben, bis das Zuschnappen der Handschellen seiner Arbeit, seinen Ambitionen und seinen Träumen ein Ende gesetzt hatte. Seinem Leben hatte er schließlich selbst ein Ende gesetzt, was von den Medien mehrheitlich als verspätetes Schuldeingeständnis gewertet wurde.
Noch einmal überflog ich die Artikel über die Gerichtsverhandlung und die Urteilsfindung. Der Richter hatte keine Zweifel an Fritz Lenhardts Schuld gehabt. Aber seine Frau hatte das allem Anschein nach nicht akzeptieren können. Ich schaltete den PC aus und lehnte mich zurück. Wäre es mir gelungen? Hätte ich mich damit abfinden können, dass der Mann, für den ich die Hand ins Feuer gelegt hätte, ein Mörder war?
Im Hof war Simon gerade dabei, seinen Transporter mit Weinkisten zu beladen. Rosa lag ein paar Meter von dem Wagen entfernt in der Sonne und ließ ihn nicht aus den Augen. In regelmäßigen Abständen verschwand Simon in seiner Weinhandlung und kam mit der voll beladenen Sackkarre wieder heraus. Er trug schwarze Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber einen erdfarbenen Pulli mit V-Ausschnitt, dessen Ärmel er hochgeschoben hatte. Seine dunklen Haare waren vom Wind zerzaust. Ich wusste genau, wie widerborstig sie sich anfühlten und wie gut sie dufteten. Seine Stirn war wie immer in Falten gelegt, und wie üblich sah es aus, als habe er sich seit drei Tagen nicht rasiert, obwohl er es an keinem Morgen vergaß. Er kniff die Augen zusammen, um sie vor der Sonne zu schützen.
Simon war in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Seinem Vater, einem Trinker, war häufig die Hand ausgerutscht, seiner Mutter, einer Egozentrikerin, war ihr perfekter Lidstrich stets wichtiger gewesen als ein blaues Auge ihres Sohnes. Simon hatte beiden mit achtzehn den Rücken gekehrt und sich nie wieder bei ihnen blicken lassen, obwohl sie nicht weit entfernt am Pilsensee lebten. Simon machte nie viele Worte um seine Vergangenheit. Trotz alledem hätte ich die Hand für ihn ins Feuer gelegt. Ich war felsenfest davon überzeugt, er könne niemandem etwas zuleide tun. Eine Überzeugung, die Simon nicht mit mir teilte. Aber das war ein anderes Thema.
Ich beobachtete ihn, wie er die Sackkarre zurückstellte und die Tür von Vini Jacobi verschloss. Gleich würde er ins Auto steigen, um die Weinkisten auszuliefern. Mit ein paar Schritten war ich draußen im Hof und lief ihm entgegen, nicht ohne einen schnellen Blick Richtung Laterne zu werfen. Die Kerze brannte.
»Hey, du Frühaufsteherin«, begrüßte er mich. Simons Stimme war der beste Gradmesser für seine Gefühlslage. Sie klang nicht immer so warm wie in diesem Moment, ihre Klaviatur reichte bis hin zu schneidender Kälte. »Gerade wollte ich bei dir vorbeikommen und deine Schulden eintreiben.« Er zog mich so nah an sich, dass unsere Nasen sich fast berührten. Dann blies er mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Ich küsste ihn und ließ mir Zeit dabei. »Es war viel zu früh, um dich zu wecken.«
»Ich hätte mich gerne von dir wecken lassen …«, entgegnete er mir mit einem verschmitzten Lächeln.
»Dann wäre ich aber zu spät ins Büro gekommen.«
»Ich hätte dir eine Entschuldigung geschrieben.« Simons Hände strichen über meinen
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