Das verstummen der Kraehe
handschriftlich verfasste Testament, dann las ich es noch einmal Wort für Wort:
Zu meinen Erben bestimme ich zu gleichen Teilen Christoph und Beate Angermeier, Tilman und Rena Velte sowie Nadja Lischka.
Nadja Lischka? Bei ihr musste es sich um die Frau handeln, die mir am Vormittag drei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen und mich dringend um Rückruf gebeten hatte. Ich las weiter:
Erbe kann jedoch nur werden, wer folgende Bedingung erfüllt: Er/sie muss von jedem Verdacht der Beteiligung an der Ermordung von Konstantin Lischka befreit sein.
Lässt sich der Verdacht bezüglich eines der genannten Erben nicht ausräumen, so fällt sein Anteil den anderen zu gleichen Teilen zu.
Lässt sich der Verdacht für keinen der fünf ausräumen, fällt das gesamte Erbe an den Tierschutzverein.
Dasselbe gilt für den Fall, dass einer der potenziellen Erben Kristina Mahlo als Testamentsvollstreckerin ablehnt.
Es liegt im Ermessen der Testamentsvollstreckerin, darüber zu befinden, ob im Einzelfall der Verdacht ausgeräumt werden konnte.
Diesem außergewöhnlichen Testament war ein verschlossener, an mich adressierter Brief beigefügt. Ich öffnete ihn und las:
Sehr geehrte Frau Mahlo,
sicher werden Sie sich fragen, warum meine Wahl auf Sie gefallen ist. Ihnen eilt der Ruf voraus, gewissenhaft und unbestechlich zu sein. Diese Eigenschaften werden Sie brauchen, um meinen letzten Willen zu erfüllen. Sollten Sie – aus welchen Gründen auch immer – erwägen, die Testamentsvollstreckung gleich im Vorfeld abzulehnen, bitte ich Sie, Ihre Entscheidung erst zu fällen, nachdem Sie in meiner Wohnung waren. Den Schlüssel verwahrt meine Nachbarin Marianne Moser. Ich zähle auf Sie, Kristina Mahlo. Vielleicht gelingt Ihnen, woran ich gescheitert bin. Theresa Lenhardt
Vorhin erst hatte ich Funda erklärt, bei der Nachlassarbeit sei kein Fall wie der andere. Ein vergleichbares Testament war mir allerdings noch nicht untergekommen. Ich sah mir Theresa Lenhardts Vermögensaufstellung an. Sie hinterließ ein Wochenendhaus am Starnberger See, ein Mietshaus in Nymphenburg, rund sechs Millionen Euro in Wertpapieren sowie zweihunderttausend Euro als Festgeld. Fast automatisch überschlug ich, wie viel Aufwand die Vollstreckung bedeuten würde, und errechnete daraus die mögliche Vergütung. An der Arbeit von schätzungsweise ein bis zwei Jahren würde ich zwischen einhundertachtzigtausend und zweihundertzehntausend Euro netto verdienen können. Ein ungewöhnlich großer Brocken, über den ich mich eigentlich hätte freuen können, wäre da nicht diese absurde Bedingung gewesen, die an das Erbe geknüpft war: Erbe konnte nur werden, wer von jedem Verdacht der Beteiligung an der Ermordung von Konstantin Lischka befreit war.
Nachdem ich mir einen Kaffee geholt hatte, setzte ich mich an meinen Computer, gab »Konstantin Lischka Mord« in die Maske der Suchmaschine ein, drückte die Enter-Taste und arbeitete mich durch die Artikel der Süddeutschen Zeitung, des Münchner Merkurs, der TZ und der Abendzeitung. Allmählich erinnerte ich mich wieder an das, was damals geschehen war. Wie hatte ich es nur vergessen können? Vor sechs Jahren war der neununddreißigjährige Journalist Konstantin Lischka mitten in der Nacht mit mehreren Messerstichen im Treppenhaus vor seiner Wohnung in Schwabing getötet worden. Weder seine Frau, Nadja Lischka, noch seine beiden Kinder hatten etwas davon mitbekommen, sie hatten fest geschlafen und waren in den frühen Morgenstunden vom Schrei einer Nachbarin geweckt worden. Als mutmaßlicher Täter war eine Woche später Lischkas Freund, Doktor Fritz Lenhardt, zum damaligen Zeitpunkt vierzig Jahre alt, verhaftet worden. Zwei Monate später war der bis dahin unbescholtene Gynäkologe, der weder ein Geständnis abgelegt noch Reue gezeigt hatte, des Mordes an seinem Freund für schuldig befunden worden. Sein Motiv sei ein gescheitertes Immobiliengeschäft zwischen beiden Männern gewesen.
Der Fall war wochenlang Gegenstand ausführlichster Medienberichterstattung gewesen. Viele Details aus dem Privatleben der Beteiligten waren ans Licht gezerrt und kommentiert worden. Ein Mord in der besseren Gesellschaft gab etwas her.
Drei Wochen zuvor war Ben verschwunden. Ich war damals sofort von Berlin nach München gekommen, um meine Eltern bei der Suche nach ihm zu unterstützen. Ich hatte in den Zeitungsredaktionen angerufen und um Zeugenaufrufe gebettelt. Wo war Ben zuletzt gesehen worden? Hatte er sich
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