Das verstummen der Kraehe
war klein und rundlich, hatte kurzes braunes Haar, hohe, gebogene Brauen, die ihr einen leicht spöttischen Ausdruck verliehen, und sie trug eine rechteckige, schwarz umrandete Brille.
Christoph Angermeier, ihr Mann, war sechsundvierzig und Gynäkologe. Er hatte einen glatt rasierten Schädel, wachsame blaue Augen, Aknenarben und ein kantiges Kinn. Er war muskulös und wirkte robust. Und er besaß Charisma, was ihm bewusst zu sein schien. Laut Informationen aus dem Internet hatte er eine uneheliche Tochter, gemeinsame Kinder hatten die beiden nicht.
Rechts von ihm saß Nadja Lischka mit ihren kurzen hellblonden Locken und dem blassen Teint. Konstantin Lischkas Witwe und Mutter der beiden gemeinsamen Kinder war vierundvierzig Jahre alt und führte in der Türkenstraße eine Yogaschule.
Rechts von mir saß Tilman Velte, fünfundvierzig, Unternehmensberater aus Gräfelfing und offenbar Liebhaber maßgeschneiderter Anzüge mit Einstecktuch. Er war bestimmt einen Meter neunzig groß, hatte dunkelblondes, seitlich gescheiteltes Haar und eine hohe Stirn. Seine Frau Rena, zweiundvierzig Jahre alt, hatte ihr rotblondes Haar zu einem dicken Zopf geflochten. Sie wirkte sehr natürlich, hatte einen leicht verhuschten Blick und sanft geschwungene Lippen. Laut den Ergebnissen meiner Suchmaschine war sie Gartenarchitektin. Die beiden hatten einen Sohn.
Während ich zwei Flaschen Wasser und Gläser auf den Tisch stellte, sah ich mir genau an, wer mit seinen mitgebrachten Unterlagen und Utensilien den meisten Platz am Tisch beanspruchte. Es waren Christoph Angermeier und Tilman Velte, dicht gefolgt von Beate Angermeier. Die Machtansprüche wären also geklärt, vermerkte ich im Stillen und kippte eines der Fenster, um das Gemisch aus Parfums und Rasierwassern mit Sauerstoff zu verdünnen.
Schließlich setzte ich mich und sagte, während ich jeden der Reihe nach ansah: »Erst einmal möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie sich so kurzfristig für diesen Termin Zeit genommen haben. Das war sicher nicht einfach an einem Freitagnachmittag, und ich weiß es zu schätzen. Deshalb werde ich versuchen, Ihre wertvolle Zeit nicht über Gebühr zu beanspruchen. Es geht mir heute vor allem darum, mir ein Bild der Situation zu machen.«
»Das ist Ihr gutes Recht«, meldete Christoph Angermeier sich mit tiefer, rauer Stimme zu Wort. »Und wir werden Sie dabei selbstverständlich nach Kräften unterstützen.«
»Danke, Herr Doktor Angermeier. Möchte vielleicht jemand von Ihnen vorab schon ein paar Fragen loswerden, oder soll ich einfach mal beginnen?«
Christoph Angermeier machte eine Geste, mit der er mir das Wort erteilte.
Ich öffnete die Mappe mit meinen Unterlagen. »Also gut. Jedem von Ihnen wurde vom Nachlassgericht eine Kopie von Theresa Lenhardts Testament zugeschickt. Sie sind also alle über den Inhalt informiert. Damit dieses Testament von mir vollstreckt werden kann, muss ich das Amt annehmen, was ich bislang noch nicht getan habe …«
»Warum nicht?«, unterbrach Christoph Angermeier mich. Er gab vor, erstaunt zu sein, aber das nahm ich ihm nicht ab. Er wirkte alles andere als naiv.
»Dieses Testament ist außergewöhnlich. Die Bedingungen, die Theresa Lenhardt darin stellt, sind …«
»Oh ja, natürlich. Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, und ich bin überzeugt, dass diese Bedingungen völlig an Gewicht verlieren, sobald Sie sich unsere Sicht der Dinge angehört haben.«
»Möchten Sie dann vielleicht gleich mit Ihrer Sicht der Dinge beginnen, Herr Doktor Angermeier?«
»Gerne.« Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und breitete in einer offenen Geste die Hände aus. »Sie haben sich inzwischen sicher mit den grundlegenden Details des Falles Lenhardt/Lischka vertraut gemacht, Frau Mahlo. Es ist eine äußerst tragische Geschichte, die alle Beteiligten Nerven und schlaflose Nächte gekostet hat. Und es ist eine Geschichte, die dazu angetan ist, Freundschaften in die Brüche gehen zu lassen. Für uns alle grenzt es an ein Wunder, dass es uns gelungen ist, unsere engen Verbindungen über den Mord, die Gerichtsverhandlung und die Nachwirkungen hinaus zu bewahren. Deshalb gilt das, was ich sage, für uns alle: Als wir dieses Testament lasen, waren da erst nur Empörung und Entsetzen. Schließlich hat Theresa mit ihrem Erbe ein Kopfgeld ausgesetzt. Unvorstellbar eigentlich, dass eine gute Freundin so etwas tut. Aber diesem Schock ist ziemlich schnell unser aller Mitgefühl gefolgt. Das
Weitere Kostenlose Bücher