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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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und hob die Sonnenbrille auf. Er brauchte eine Weile; er war betrunken.
    »Für dich«, sagte er, dann tippte er seinem Freund auf die Schulter und zog ihn weg. Der mit der Sonnenbrille ging ein paar Schritte rückwärts und starrte Ron an. Dann drehte er ihm mit viel Pathos den Rücken zu und ging.
    »Lea …«, sagte Ron. Sie starrte ihn an, und in ihren Augen spiegelten sich die orangenen Straßenlaternen. Er wusste nicht, warum er das gerade getan hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte sie nie gehabt, und jetzt hatte er sie verloren.
    »Hey«, sagte Lea. »Schon okay.«
    Ron legte sich die Hände vor die Augen. Sie war ein Publikumsliebling. Und er gehörte ja auch zum Publikum, aber schlimmer noch: er war auch ihr Boss.
    Aber dann:
    »Wollen wir noch was trinken gehen, wenn Veras Schicht anfängt?«, fragte Lea. Sie legte ihm die Hand in den Nacken. »Hey«, sagte sie. Er hatte gerade jemanden geschlagen, und jetzt berührte sie ihn zum ersten Mal, ließ ihn ganz nah an sich heran.
    Seltsam. Auch als sie die Hand langsam wegnahm und nach einem Buttermesser griff, spürte er im Nacken noch ihre Finger.

    Viele Leute glauben, ein brillanter Geschäftsmann zeichne sich vor allem durch eiskaltes Kalkül aus, aber Rons Geschäftssinn nährte sich aus einem warmen, offenen Herzen. Tel Aviv war voller müder und einsamer Menschen, die alle in die Stadt gezogen waren, als sie herausgefunden hatten, was sie wollten, von der Hektik aber schnell angewidert waren, davon, immer alles allein schaffen zu müssen, in ihren winzigen Wohnungen aufzuwachen, Morgen für Morgen, nackt, verschwitzt und voller Angst. Für Ron waren alle diese Menschen gleich, und sie waren nicht schwer zu verstehen. Sie brauchten jemanden, der ihnen genau das gab, was sie sich selbst gegeben hätten, wenn sie nicht so müde gewesen wären, egal, was es war. Jemanden, der nie richtet.
    Das Prinzip war ganz einfach. Jeder Kunde konnte sich sein Wunschsandwich zusammenstellen und es auf jede beliebige Weise zubereitet haben, bis ins kleinste Detail. Keine Erklärung und kein Wunsch waren zu lang oder zu schwierig. Ein Falafel-Sandwich ohne Falafel? Roggenbrot und Truthahn mit drei darübergestreuten Löffeln Zucker? Ein Stück Pizza in einer Pita mit Mayo? Orangensaft, der zwölf Sekunden lang in der Mikrowelle erhitzt worden war? Kein Problem! Wollte der Kunde eine Zutat, die im Laden nicht vorrätig war, konnte er für zehn Sandwichs im Voraus zahlen, erhielt dafür eine Treuekarte in Rosa und Limonengrün sowie die Garantie, dass die Zutat am Tag darauf und in den nächsten vier Monaten jeden Tag vorrätig sein würde. Der Laden war keine Schnapsidee – er war die Lösung.

    Lea ging vor Ron die Straßen der Stadt entlang. Immer wenn er zu ihr aufschloss, ging sie schneller, bis er endlich verstand, dass sie genau so gehen wollte, dass sie es genau so mochte. Er akzeptierte es, Akzeptieren war sein Beruf, und blieb immer ein paar Schritte hinter ihr. Die Straßen waren voller Menschen, weggeworfener Spielzeuge, Kleider, Flugblätter. Nichts in dieser Stadt schien je ganz zusammenzupassen. Selbst jetzt, morgens um zwei, konnte man ein kleines Mädchen sehen, das ganz allein unterwegs war, dabei wirkte es weder arm – es trug ein Gap-Sweatshirt – noch verirrt. Es summte vor sich hin. Auf einer Bank beugten sich ein magerer Junge und ein schon älterer Mann mit einem Akkordeon über den Sportteil. Geschäfte tanzten aus der Reihe; immer wieder stand eines zu weit auf den Gehweg vor. Ein Laden, der Wanderausrüstung verkaufte, lag neben einem Laden für Judaika – das ergab alles keinen Sinn. Wenn Lea vor ihm herging, war alles seltsam, aber nicht weniger vertraut.
    Als Lea nach ein paar Drinks im LimaLima Club verschwand, um sich den nächsten zu holen, musste er immer noch an die Straßen der Stadt denken, und seine Gedanken wurden immer wirrer. Irgendetwas war aus den Fugen geraten, aber vielleicht vertrug er auch nur nicht so viel Alkohol. Er erinnerte sich an einen Freund seines Vaters, der mal gesagt hatte, die Leute, die die Stadt erbaut hätten, wären solche Idioten gewesen, dass sie die Straßen parallel zum Meeresverlauf gebaut hätten, sodass man überall nur die Balkone anderer Leute, aber nie das Mittelmeer sah. Der Club war rappelvoll, und die Musik dröhnte so sehr, dass sie ihm den Brustkorb eindrückte. In der Dunkelheit konnte er nur Zungen erkennen. Er roch staubtrockenen Atem und Schweiß und Haarspray;

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