Das War Ich Nicht
Fernsehen im Winter, durch die sich Linien in einem helleren Blau zogen, das mich an die Schrift über meiner ersten Hamburger Lieblingskneipe erinnerte, dem Blauen Peter.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte Arthur eine Ausstellung mit seiner panorama/vexir-Serie gehabt und alle Arbeiten verkauft.
Seit einer Stunde gab es nicht einmal mehr Wind. Bleierne Stille im ganzen Haus. Ich hörte, wie das Blut in den Adern rauschte, hörte mein Herz, das noch fünfzig Jahre so weitermachen würde, und überlegte, ob Henry LaMarck in diesem Moment genauso verwirrt durch Chicago irrte. Sich nicht nach Hause traute. Ich konnte nicht glauben, dass er den Roman nicht fertig geschrieben hatte. Er hatte ihn abgeschlossen, fertig geschrieben, vollendet. Dann war er völlig erschöpft bei Parker Publishing angekommen und was machten die? Eine Überraschungsparty! Hätte ich denen auch sagen können, dass Henry LaMarck da einen Schock bekommt. Und jetzt suchten sie nicht einmal nach ihm. Kein Wunder, dass er unter diesen Umständen das Manuskript zu seinem Jahrhundertroman nicht abgab.
Vielleicht wäre es gut, wenn eine Person sich mit ihm treffen würde, die nicht vom Verlag kam. Jemand, zu dem er keine enge persönliche Beziehung hatte, und der sein Werk dennoch gut kannte. Mit einer nicht angezündeten Zigarette lehnte ich mich zurück und sah aus dem Fenster. Ich war diese Person.
Eine halbe Stunde später war ich auf dem Weg nach Hamburg. Ich hatte gepackt: ein paar Sachen, meinen Pass und das Bild. Jetzt musste ich nur noch einen Kunsthändler finden, der Interesse an panorama/vexir blau.o hatte. Wenn Weggehen nicht funktioniert hatte, wird hoffentlich etwas anderes funktionieren:
Weiter weg gehen. Nach Chicago.
HENRY
Als ich am nächsten Morgen in meinem Hotelbett aufwachte, pochte es in meiner Brust wieder viel zu schnell, doch jetzt empfand ich es nicht mehr als Herzrasen. Es war das Herzklopfen eines inspirierten Künstlers. Ich nahm den Wirtschaftsteil der Chicago Tribune zur Hand und riss am Bildrand entlang das Zeitungspapier ein, auf eine fast zärtliche Weise langsam, um auch nicht eine seiner zerrauften Locken abzureißen, ohne die Hand vor seinem Mund, die seine Gesichtszüge nach unten zog und seine blauen Augen müde wirken ließ, zu beschädigen.
In diesem Gesicht lag alles, wonach ich seit einem Jahr gesucht hatte. Ein verzweifelter Banker - was für ein perfektes Symbol der Welt, die am 11. September attackiert worden war! So musste ich meinen Jahrhundertroman schreiben: aus der Innensicht des Systems. Vielleicht tat ich mich ja so schwer, weil ich genau das nicht mehr beherrschte: die Perspektive des arbeitenden Menschen. Die einzige Perspektive, die ich noch kannte, war der Blick durch das Loch von Enriques Massageliege auf den Marmorfußboden des Vital City Spa.
Chicago war schon immer die Stadt, in der das Unmögliche gelingen konnte: Hier wurde der Wolkenkratzer erfunden, und als der Chicago River zu viele Abwässer in den Michigansee führte, hatte man einfach seine Fließrichtung geändert. Wäre doch gelacht, wenn es mir in dieser Stadt nicht gelingen sollte, diesen verzweifelten Business-Boy zu finden, obwohl ich nichts von ihm hatte, außer einem Foto aus der Zeitung, das ich nun in meiner Brieftasche aus meinem Hotelzimmer trug.
Ich schwebte über das erneut zu Boden gefallene Bitte-nicht-stören-Schild hinweg, nahm den Fahrstuhl, durchquerte die Lobby und fand das Hotel gar nicht mehr so schlimm. Zumindest war es nicht alt. Alte Gebäude deprimierten mich, weil sie mich, genau wie Antiquitätenläden, an tote Menschen erinnerten. Doch das Estana war neu, groß und anonym; in der Halle standen keine großväterlichen Sessel, und an der Rezeption arbeiteten frische, unverbrauchte Menschen.
Einen nostalgischen Ort gab es allerdings doch, an dem ich hing. Und genau dort zog es mich jetzt hin. In den Walnut Room im Kaufhaus Macy's. lch hielt ihm die Treue, obwohl das nicht nur einer der nostalgischsten Orte der Stadt war, sondern darüber hinaus mit einer meiner glücklichsten Kindheitserinnerungen verbunden.
Von dem Werbeslogan Give the lady what she wants angezogen, hatte meine Mutter ihre ganze Freizeit bei Macy's verbracht, das damals noch Marshall Field's hieß, und da ich Einzelkind war und von einem Kindermädchen betreut wurde, verfügte sie über einiges an Freizeit.
Einmal im Jahr, am Sonnabend nach Thanksgiving, zog meine Mutter mir Blazer und Fliege an und nahm mich mit. Schon vor dem
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