Das waren schöne Zeiten
nächsten Pult sitzen, nicht bei dir«, flüsterte mir Olivia zu, kaum, daß wir Platz genommen hatten. »Willst du mit ihr den Platz tauschen, wenn Filio nicht herschaut?« Mir sank das Herz, aber ich erklärte mich mit sklavischer Unterwürfigkeit dazu bereit, und wir schafften es, zu tauschen. Doch nicht für lange. Mr. Turner überblickte prüfend die Klasse, bemerkte augenblicklich den Wechsel und schickte mich zurück. Doch frech und voll verzweifelten Verlangens, mich wenigstens ein bißchen bei meinen Mitschülerinnen beliebt zu machen, wartete ich nur eine Chance ab, um wieder meinen Platz zu tauschen. Dies brachte mir einen scharfen Verweis vom Lehrer ein — und die unverbrüchliche Freundschaft des Mädchens mit dem gleichen Namen. Sie dauerte durch alle Jahre der Schulzeit, der Universität, unserer Verheiratung und unseres Alters an, und erst kürzlich sagte sie zu mir: »Es fing an diesem ersten Tag an. Ich fand es einfach schneidig von dir!«
Ich zeichnete mich während meiner Schulzeit nie besonders aus und gewann nur selten einmal einen Preis, ausgenommen für Englisch und Aufsatz. In Mathematik hinkte ich immer nach, und ich mußte mich ziemlich anstrengen, in diesem Fach überhaupt durchzukommen. Auch um ein Stipendium an der Uni bewarb ich mich nicht, weil mir in meinem ersten Semester der letzten Klasse an der Lateinschule meine Gesundheit zu schaffen machte. Die Ärzte verordneten, daß ich Auckland verlassen und mich eine Weile in der Bay of Islands erholen sollte.
Während meiner Zeit auf der Lateinschule hatte ich dort viele Male unvergleichlich glückliche Ferien verlebt. Wie schön war das gewesen, wenn eine ganze Gesellschaft von uns mit der Clansman nach dem Norden fuhr, um mehrere Wochen in Paihia in einem der ehemaligen Häuser der Kirchenmissions-Gesellschaft zu verbringen, die von meinem Onkel gekauft und dann an uns vermietet worden waren. Damals bestand Paihia aus acht Häusern und der kleinen Kirche, an deren Stelle nun die >Williams Memorial Church< steht. Es war ein idealer Ort für Ferientage, und wir freuten uns immer schon monatelang vorher auf den Tag unserer Ankunft. Nichts hat sich meinem Gedächtnis stärker eingeprägt als jener wunderbare Augenblick, da man nach einer stürmischen Überfahrt auf der alten Clansman am frühen Morgen an Deck kam und auf die ruhige See in der Bay blickte und glücklich diesen ganz speziellen, vertrauten halbtropischen Geruch nach Meer, Teesträuchern und den vielen Trompetenlilien einatmete, die in Mengen an der Küste wuchsen. Wir landeten in Opua und bestiegen dort das Motorboot, das uns nach Paihia bringen würde, und sagten wieder und wieder zueinander. »Sechs ganze, wunderbare Wochen, in denen wir tun können, was wir wollen! Baden, Picknicks abhalten, in der Sonne liegen — und nicht eine Menschenseele außer uns!« Heute könnte man das Leben in Paihia nicht mehr so beschreiben, obwohl es immer noch ein wundervoller Ort für Ferien ist.
Doch nun, mitten in meinem vierten Jahr an der Lateinschule, war meine Reise dorthin kein vergnüglicher Ferientrip: Diesmal war ich allein. Ich betrachtete es nicht anders als eine Verbannung, denn ich sollte wieder im Haus meiner viktorianischen Tante leben. Onkel und Tante lebten nun hoch oben in den Bergen, in einem ehemaligen Hotel, das zu einem Landhaus umgebaut worden war. Es gab dort eine geräumige Hall, komplett mit Familienporträts und großem offenem Kamin, wo gelegentlich ein zeremonieller Tanzabend im kleinen Kreis abgehalten wurde, einen steifen, ungemütlichen Salon und ein großes Speisezimmer, in dem immer die Jalousien heruntergelassen und die Tische für die nächste Mahlzeit gedeckt waren und auf den Sideboards das Familiensilber sich häufte. Selbstverständlich verfügte man auch über genügend Dienstpersonal, welches diese Pracht in Ordnung hielt.
Ich verabscheute alles aus tiefstem Herzensgrund — den minütlich genau eingeteilten Tagesablauf in dem großen Haus, die Nachbarn, die nicht >mal ’reinguckten<, sondern >Besuche abstatteten< und denen ich Tee zu reichen und zu antworten hatte, wenn sie mich anredeten; das schwere Essen, kurz, die ganze bedrückende, steifleinene viktorianische Atmosphäre. Nach der ungezwungenen und manchmal übermütigen Fröhlichkeit unseres Lebens in Auckland war das für mich ein wahres Martyrium. Es gab nicht einmal ein Pferd, und hätte es eines gegeben, dann würde man unweigerlich von mir verlangt haben, im Damensitz zu
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