Das weiße Grab
einfach nur traurig, ich weiß nicht, was ich …«
»Ein Kollege und vielleicht eine Krankenschwester. Ich habe jetzt einfach nicht die Zeit, weiter mit dir zu reden. Komm schon.«
Arne Pedersen stand willenlos auf und ließ sich hinausführen. Tränen rannen über seine Wangen, ohne dass er Anstalten machte, sie sich abzuwischen.
»Versprichst du mir, sie zu finden, Konrad?«
»Da kannst du Gift drauf nehmen. Ich finde sie, ganz sicher!«
»Ganz sicher? Schwörst du das? Ganz sicher?«
»Ja, ganz sicher.«
Wieder allein in seinem Büro, nahm Konrad Simonsen sich fünf Minuten Zeit, um sich so rational wie nur möglich eine Prioritätenliste zu machen. Als Poul Troulsen und Arne Pedersen ihm von Pauline Bergs Schicksal berichtet hatten, waren seine Körperfunktionen für einen Moment lang ausgefallen, so dass er kurzzeitig die Kontrolle über seine Blase verloren hatte. Er saß still wie eine Sphinx hinter seinem Schreibtisch und dachte nach, bis er schließlich zum Telefon griff und die Comtesse anrief, die in Helsingborg war. Ohne Umschweife unterrichtete er sie über die neue Situation und beorderte sie zurück ins Präsidium. Kaum dass er aufgelegt hatte, brach ihm massiv der Schweiß aus, und sein Herz begann zu rasen. Er versuchte, seinen Körper zu ignorieren, und konzentrierte sich auf seine Arbeit, doch ohne Erfolg. Die Angst quälte ihn, er zog das Hemd aus und streifte sich mühsam auch das Unterhemd über den Kopf. Es war klitschnass, als hätte er es gerade erst aus der Waschmaschine geholt. Dann zählte er ein paarmal langsam bis zehn, rezitierte die Wochentage und Monate und wiederholte das Ganze noch einmal. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er wieder ruhiger wurde. Ganz hinten in seiner Schreibtischschublade fand er eine Flasche Cognac, nahm einen kräftigen Schluck und verstaute die Flasche wieder. Dann zündete er sich eine Zigarette an. Erst als die Zigarette geraucht war, hatte er das Gefühl, wieder Herr der Lage zu sein. Er nahm einen Satz Kleidungsstücke aus seinem jederzeit gepackt bereitliegenden Reisekoffer und zog sich um. Kurz darauf rief er Anna Mia an, simulierte aber eine schlechte Verbindung, legte auf und ignorierte ihre beiden nächsten Anrufe, glücklich darüber, dass Tausende von Kilometern zwischen ihr und Andreas Falkenborg lagen. Danach dachte er an Jeanette Hvidt und Pauline Berg und gab sich selbst, nicht ohne Sarkasmus, das Versprechen, erst den Löffel abzugeben, wenn er sie gefunden hatte. Die Ironie schob das Unbehagen weiter in den Hintergrund, obwohl ihm zum ersten Mal wirklich klargeworden war, dass seine Ressourcen nicht unbegrenzt waren – und sein Leben auf Messers Schneide stand.
Gut eine Dreiviertelstunde später war die Comtesse wieder zurück im Präsidium, wo sie direkt in Konrad Simonsens Büro ging. Er hatte gerade eine Handvoll Beamte instruiert und ihnen neue Aufgaben zugeteilt. Die Comtesse bemerkte, dass nur wenige sie grüßten und ihr einige sogar mit dem Blick auswichen, als wäre sie ein Tabu. Konrad Simonsen rief ihnen nach: »Und denken Sie daran, er darf nur observiert werden, nicht festnehmen. Sorgen Sie dafür, dass diesen Befehl wirklich jeder mitkriegt. Das ist von absolut zentraler Bedeutung! Nur observieren!«
Die Männer nickten müde, und die Comtesse dachte, dass ihnen dieser Befehl jetzt sicher schon zum dritten Mal erteilt worden war.
»Gibt es etwas Neues?«, fragte sie, als sie allein waren.
»Nein, nichts. Wir kriegen zahlreiche Hinweise wegen seines Autos. Bis jetzt nur falsche, aber ich hoffe, das ist nur eine Frage der Zeit.«
Er sah ihr tief in die Augen wie ein Radrennfahrer, der einen Konkurrenten am Fuß des Berges in Augenschein nimmt. Sie erwiderte seinen Blick ohne Zögern, wohlwissend, dass sie gemustert wurde. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, sagte er: »Wie ich sehe, bist du bereit.«
Sie vernahm in seinem Tonfall einen leichten Vorwurf, entschloss sich aber, ihn zu ignorieren.
»Arne ist neben der Spur«, sagte er. »Aber er will trotzdem hier bei uns sein. Ich selbst habe mir wie ein Kind in die Hose gemacht, als ich die Nachricht erhielt, und du … du bist einfach bereit.«
Die Stimme der Comtesse klang kühl, als sie sagte: »Konrad, ich kenne solche Situationen. Das habe ich euch vielleicht voraus. Vor vielen Jahren hatte ich einen Sohn, jetzt nicht mehr. Nichts ist schlimmer zu ertragen als so etwas. Ich will nicht darüber reden, weder mit dir noch mit sonst jemandem.
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