Das Winterhaus
Haus und einen großen Teil des Dorfs dazu. Joe machte einen Rundgang durch die Fabrik und sah wieder die Reihen gewaltiger, donnernder Maschinen. Bei der Arbeit im Büro begann er zu begreifen, welch unermüdliche Anstrengungen es kostete, die Spinnerei in der tiefsten Depression über Wasser zu halten.
Die meisten der Reihenhäuser, die das Dorf Hawksden bildeten, gehörten seinem Vater. Er hatte die Schule gebaut; unter seiner Schirmherrschaft gediehen die drei kleinen Geschäfte. Die Männer im Dorf zogen ihre Mützen vor John Elliot; die jungen Mädchen knicksten. John Elliot sah sich als eine Art wohlwollender Gutsherr, doch Joe sah es anders. Er sah, daß die armseligen kleinen Häuser weder Strom noch fließendes Wasser hatten, daß die Kinder der Fabrikarbeiter barfüßig auf dem Kopfsteinpflaster spielten, daß Gönnerschaft ein jämmerlicher Ersatz für Unabhängigkeit war.
Er sah den beständigen Kampf seines Vaters mit seiner Herkunft, die immer durchkommen würde, obwohl er doch ein Aristokrat sein wollte, und sein Vater tat ihm leid. Es half nichts, daß er wie die BBC-Sprecher und die königliche Familie zu sprechen versuchte, er glitt immer wieder in den breiten Dialekt der Leute aus Yorkshire zurück. Indem John Elliot seinen Sohn auf ein privates Internat geschickt hatte, hatte er aus ihm jene Art von Mann gemacht, die er selbst beneidete und verachtete.
Ihre jetzigen Auseinandersetzungen waren nur noch schwacher Abklatsch ihrer früheren Konflikte. Es war, als wären sie beide nicht mehr mit dem Herzen dabei. Bei jeder Mahlzeit zankten sie oder aßen stumm; zu etwas anderem schienen sie nicht imstande. In anderen Familien sprach man miteinander; nicht bei den Elliots. Im Lauf eines ihrer schwierigen, stockend geführten Gespräche entdeckte Joe, daß seine Tante Claire, die Schwester seiner Mutter, vor Jahren nach Hawksden geschrieben und nach seiner Adresse gefragt hatte. »Ich hab ihr geschrieben, daß ich keine Ahnung hab. Du hast's ja nicht für nötig gehalten, mich einzuweihen«, sagte John Elliot beißend, während er seine Pfeife stopfte. Der Brief, dem man vielleicht den Aufenthaltsort Tante Claires hätte entnehmen können, war längst verschwunden.
Das Schweigen zwischen ihnen erinnerte Joe an das Schweigen seiner Kindheit: das riesige, häßliche, leere Haus; die Abendessen mit seines Vaters langweiligen und weitschweifigen Schilderungen irgendeines trivialen Vorkommnisses in der Fabrik, die höflich indifferenten Antworten seiner Mutter. Damals hatte er seine Mutter bemitleidet, weil sie solche Langeweile aushalten mußte; jetzt, da er selbst unerwidert liebte, schmerzte ihn die Erinnerung an die ungeschickten Versuche seines Vaters, Konversation zu machen.
Zwei Wochen vergingen. Er versuchte, nicht an Robin zu denken, aber es gelang ihm nicht. Seit fast zwei Monaten hatte er keinen Kontakt mehr mit ihr gehabt. Anrufen konnte er sie nicht, da es bei den Damen Turner kein Telefon gab. Er hätte ihr schreiben können, aber er wußte nicht recht, was er schreiben sollte. Beim Klavierspiel im Salon seiner Mutter erinnerte er sich deutlich der Freudlosigkeit der Ehe seiner Eltern und fragte sich, ob diese Art der Aussichtslosigkeit von Generation zu Generation weitergegeben werden konnte wie etwa blaue Augen oder ein Buckel. Um sich von solchen Gedanken abzulenken, ackerte er eine von Beethovens Sonaten durch, bis plötzlich die Stimme seines Vaters ihn aus der Konzentration riß. »Hast du keine Ohren, Junge? Der Gong zum Abendessen war schon vor zehn Minuten.«
Joe hob die Hände von den Tasten. Sein Vater warf einen geringschätzigen Blick auf das Klavier.
»Verdammte Zeitverschwendung, dieses Ding.«
»Es hat sie glücklich gemacht.« Joe, der sich auf dem Klavierschemel herumdrehte, war selbst überrascht von seiner Heftigkeit. »Für einen Mann, hab ich gemeint. Bei einer Frau ist das was anderes. Außerdem war Thérèse immer glücklich. Sie hatte alles, was sie wollte.«
»Mensch, das ist doch …« Joe sprang auf und knallte den Deckel des Stutzflügels mit solcher Gewalt zu, daß die Saiten klirrten. Dann ging er zum Fenster. »Schau es dir doch an, Dad. Schau's dir nur mal an.« Es war ein düster grauer Januartag. Die Häuser im Dorf waren schwarz von Kohlenstaub, Wege und Kopfsteine und verkrüppelte Bäume vom grauen Glanz des Regens überzogen.
»Weit und breit kein Haus, das nur halb so groß ist wie dieses hier. Mit wem hat sie sich unterhalten? Was hat sie
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