Das Winterhaus
Objektiv ein. Die riesige Fläche der Place de la Concorde war voller Menschen – Zehntausende mußten es sein. Joe verstaute die belichteten Platten vorsichtig in seinem Rucksack.
Bruchstücke von Reden, die plärrend durch die Lautsprecher auf der Place de la Concorde schallten, trafen aggressiv seine Ohren. Die Dekadenz der dritten Republik … die Verschwörung der jüdischen Banken, Frankreich zu vernichten … er sah, daß er in der Menge gefangen sein würde, wenn er noch weiter vorwärts drängte, deshalb machte er noch eine letzte Aufnahme von den brodelnden Massen auf dem großen Platz, dann kehrte er um und kämpfte sich durch Seitenstraßen und den Jardin des Tuileries zur Seine durch. In den Gärten nahm ihn trotz des häßlichen Getöses im Hintergrund wieder die Schönheit dieser eleganten, geheimnisvollen Stadt gefangen. Er hatte eine vage, flüchtige Erinnerung, mit seiner Mutter hier spazierengegangen zu sein. Dann erreichte er das Seineufer und blickte hinauf zu der Brücke, die zur Deputiertenkammer führte.
Noch während Joe hinsah, schien an mehreren Stellen zugleich spontan Gewalt aufzuflammen, ähnlich wie an einem heißen, trockenen Sommertag verstreute Glasscherben eine Heuwiese in Brand setzen können. Im gelben Licht der Gaslaternen sah er, wie ein Mann von einem Polizisten zu Boden gestoßen wurde und dann hundert seiner Faschistenfreunde über ihn hinwegtrampelten. Wie eine gewaltige Mauer widerstand die gesammelte Polizei dem Ansturm der Antirepublikaner; es war, als erschüttere ein Beben die Stadt. Joe, der sich immer näher an das Kampfgetümmel heranschob, drückte seine Kamera fester an sich und verwünschte die Dunkelheit.
Am folgenden Tag berichteten die französischen Zeitungen von dem mißlungenen Coup und zählten die Toten. Joe, der nach wenigen Stunden unruhigen Schlafs in einem kleinen Hotelzimmer erwachte, holte das Adreßbuch seiner Mutter aus seinem Rucksack und suchte einen Namen heraus.
Er konnte sich nur sehr düster an Großtante Marie-Ange erinnern. Die Familie Brancourt, der seine Mutter angehört hatte, war wie die Familie Elliot nicht groß. Da waren Grandpère und Grandmère gewesen, Tante Claire und Großtante Marie-Ange und einige Großnichten und Großneffen, deren Namen jedoch in dem Adreßbuch nicht erschienen. Als er ein Kind gewesen war, hatte Großtante Marie-Ange für ihn zu den »Großen« gezählt, die fern und immer ein wenig beängstigend waren. Tante Claire, die im Park mit ihm Ball gespielt und sich mit ihm in die Küche geschlichen hatte, um Kekse und Bonbons zu stibitzen, war eine Verbündete gewesen, eine Freundin.
Die Spuren der Unruhen vom Vortag waren noch überall sichtbar, als Joe durch Paris zum Haus seiner Großtante Marie-Ange ging. Es war noch früh, und eine kalte, wäßrige Sonne schien auf Dächer und Bürgersteige. Polizisten, die in kleinen feindseligen Gruppen an jeder Straßenecke standen, musterten ihn mißtrauisch. Joe ging schnell und gelangte schließlich zu einem kleinen grauen Haus am Stadtrand. Die Fensterläden waren geschlossen, die Messingbeschläge an der Haustür blitzten. Joe klopfte.
Ein grauhaariges Dienstmädchen schaute zu ihm hinaus. »Madame ist in der Messe«, sagte sie in Antwort auf seine Frage hochnäsig und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Er setzte sich gegenüber auf eine Gartenmauer und wartete, bis er eine kleine, ältere Frau, die ganz in Schwarz war, um die Ecke kommen sah.
Er sprang von der Mauer und überquerte die Straße. »Madame Brancourt?«
Ein Blick, dem ein kurzes Nicken folgte.
»Verzeihen Sie, Madame – ich bin Joe Elliot, der Sohn von Thérèse Brancourt.«
An der Tür blieb sie stehen und musterte ihn. »Thérèses Sohn?«
»Ich suche meine Tante Claire und hätte gern gewußt, ob Sie vielleicht ihre Adresse haben. Wissen Sie, meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben und –«
»Das weiß ich, junger Mann.« Madame Brancourt klopfte an die Haustür. »Kommen Sie herein. Ich halte nichts davon, Familienangelegenheiten zwischen Tür und Angel zu besprechen.«
Das Mädchen machte ihnen auf, und Joe folgte Maria-Ange in den Salon. Kruzifixe und fromme Bilder schmückten die Wände, und auf der Kredenz stand eine Sammlung von Familienfotos. Er konnte es sich nicht versagen, sie näher anzusehen.
»Wenn Sie Ihre Mutter oder Ihre Tante suchen, Monsieur «, sagte Maria-Ange spitz, »so werden Sie sie nicht finden. Thérèse und ich haben uns nie verstanden, und ich
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