Das Winterhaus
Morgenstunden. Robin weinte nicht; sie war immer noch wie erstarrt. Aber sie wußte, daß das, was Francis diesmal getan hatte, unverzeihlich war. Er hatte mit einer Zielstrebigkeit auf ihre Demütigung hingearbeitet, wie sie es ihm niemals zugetraut hätte. Ob er Evelyn Lake liebte oder nicht, war ohne Belang. Vertrauen, das hatte sie im Lauf der Jahre gelernt, war ein notwendiger Bestandteil der Liebe, und sie wußte, sie würde ihm niemals wieder vertrauen können. In der Vergangenheit hatte sie Vertrauen mit Besitzdenken verwechselt und andere vorschnell verurteilt. Jetzt wußte sie, daß Besitzanspruch die Liebe zwar zerstören konnte, daß Vertrauen jedoch ein wesentlicher Teil der Liebe war.
Als sie den Bahnhof endlich erreichte, war der Fahrkartenschalter natürlich geschlossen. Eine Ewigkeit, wie ihr schien, stand sie vor dem Fahrplan und versuchte herauszubekommen, wann der erste Zug nach London fuhr. Dann setzte sie sich mit ihrer Reisetasche an der Seite auf eine Bank und starrte in den Regen hinaus, der Blätter von den Bäumen peitschte. Sie konnte nicht schlafen; eine Katze schrie irgendwo, und die Zeiger der Bahnhofsuhr krochen im Schneckentempo vorwärts. Sie hatte das Gefühl, wenn jetzt jemand sie berühren würde, würde sie zerspringen wie Glas.
Aber es kam niemand außer einem Polizisten, der mit seiner Taschenlampe den Warteraum ausleuchtete, so daß sie ihre Augen mit der Hand abschirmen mußte. Sie gab ihm eine halbwegs plausible Erklärung dafür, warum sie mitten in der Nacht im Bahnhof saß, und war überrascht, daß er nicht sofort erkannte, daß sie falsch und hohl war, ein Mensch, in dessen einst vertrauter Welt nichts mehr stimmte, so als wäre die Erde aus den Fugen geraten und alles wäre fremd und unkenntlich geworden. Doch er tippte nur an seinen Helm und ging wieder, und sie blieb allein mit der Uhr und der Katze und dem Regen zurück.
Um halb sieben kaufte sie ihre Fahrkarte und stieg in den Zug. Sie glaubte jetzt ein Muster zu erkennen. Ihre Liebesgeschichte hatte in einem Ort am Meer begonnen und hatte nun in einem Ort am Meer geendet. Und geradeso wie sie vor Jahren, als sie noch sehr jung gewesen war, in einen Zug gestiegen war, um ein neues Leben in der Stadt anzufangen, so kehrte sie jetzt in ebendiese Stadt zurück. Nur war sie jetzt sehr alt, so schrecklich alt.
Als Joe am Samstagmorgen in der Pension nach Robin fragte, hörte er von Miss Turner, daß Miss Summerhayes über das Wochenende mit Mr. Gifford verreist sei. Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung stieß er seine Füße mit solcher Wut in die Haufen welker Blätter in den Rinnsteinen, daß diese über die ganze Straße stoben.
Die Enttäuschungen der letzten zwei Jahre hatten sich derart aufgestaut, daß es kaum noch zu ertragen war. Er hatte das Versprechen, das er Hugh Summerhayes gegeben hatte, gehalten, aber es hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Robin hatte sich verändert, sie war stärker geworden, eigenständiger. Hugh hatte sich getäuscht, Robin brauchte niemanden, der auf sie aufpaßte. Joe bezweifelte nicht, daß sie ihr Ziel, Ärztin zu werden, eines Tages erreichen würde. Die kleine Rolle, die er einmal übernommen hatte, war überflüssig geworden. Ihre Liebe zu Francis war unerschütterlich geblieben, während seine eigene Situation immer aussichtsloser und quälender geworden war. Er mußte sich entscheiden, sich von ihr zu lösen und einen neuen Anfang zu machen.
Die Erkenntnis war schmerzhaft. Er wußte, daß er jetzt erst einmal aus London fortmußte, und wenn nur für ein paar Tage, kurzentschlossen packte er einige Sachen und ging zum Untergrundbahnhof. In einer halben Stunde ging vom Kings-Cross-Bahnhof ein Zug nach Leeds. Seit seinem letzten Besuch in Hawksden hatte er mit seinem Vater brieflich Verbindung gehalten. Ab und zu bekam er zur Antwort eine Ansichtskarte. Die Karten zierten stets die absurdesten Abbildungen – zwei spielende Kätzchen in einem Wollstrumpf, eine Reihe Badeschönheiten am Strand von Scarborough –, und auf die Rückseite pflegte sein Vater ein paar Worte über das Wetter oder die Spinnerei oder den Kohlenpreis zu schreiben.
Als er in Elliot Hall eintraf, musterte ihn sein Vater mit kritischem Blick. »Na ja – siehst wenigstens nicht mehr ganz so sehr wie eine Vogelscheuche aus, mein Junge.« Joe zeigte ihm den Zeitungsausschnitt über seine Ausstellung und erntete ein Brummen, das vielleicht beifällig gemeint war. Am Montagmorgen führte sein Vater ihn
Weitere Kostenlose Bücher