Das Winterhaus
waren mit Plakaten von sonnenbeschienenen Traktoren und heldenhaften Arbeitern bepflastert. Grell aufgemachte Streitschriften, abgegriffene Bände aus dem Marx-Engels-Lenin-Institut und eselsohrige Exemplare der letzten Angebote des Linken Buchklubs lagen überall herum.
»Das englische Großbürgertum hat immer schon vor dem Kommunismus weit mehr Angst gehabt als vor dem Faschismus. Ich nehme morgen die Fähre nach Boulogne. Dann fahr ich per Anhalter nach Marseille und such mir ein Schiff, das mich nach Barcelona mitnimmt.«
Der Sprecher, ein schmächtiger, rotbärtiger Aquarellmaler, war berauscht von Bier und Optimismus. Robin, die einen Blick auf Joe warf, sah das Aufblitzen in seinen Augen.
Obwohl Robin immer noch ihr Zimmer in Whitechapel hatte, verbrachte sie immer mehr Zeit in Joes Wohnung. Die beiden Mansardenzimmer waren geräumiger, sie waren hier mehr für sich, und das Haus war von einer bunten Schar von Musikern, Malern und gescheiterten Dichtern bevölkert. Sie hängte Plakate an die Wände und brachte Kleinigkeiten mit, die die Wohnung heimeliger machten. Sie verbrachten die Abende und die Wochenenden zusammen, wechselten sich mit dem Kochen ab oder gingen mit Freunden in billige kleine Restaurants.
Im September genehmigte die russische Komintern die Aufstellung Internationaler Brigaden, die auf seiten der spanischen republikanischen Regierung in den Kampf ziehen sollten. Freiwillige wurden in allen kommunistischen Zentralen in allen Ländern der Welt angeworben. Arbeitslose, Fabrikarbeiter, Studenten, Akademiker, Künstler und Literaten, Männer, die in ihrem Leben nie eine Schußwaffe in der Hand gehabt hatten, brachen zu der langen Reise nach Spanien auf.
Gerüchte von der Bombardierung Madrids erreichten sie, Meldungen in den Zeitungen deuteten die Zerstörung an. Fotografien von Madrid: pulverisierte Mauern, Bombeneinschläge in den Straßen, Männer, Frauen und Kinder, die in Untergrundbahnhöfen vor den Bombardierungen Zuflucht suchten. Guy Fortune warf für seine Ideale alle Wehwehchen und Ängste über Bord und beschloß, nach Spanien zu gehen; Niklaus Wenzel, der deutsche Flüchtling, hatte den Kanal in der vorhergehenden Woche überquert. Sie gingen zu Guys Abschiedsfest in der Fitzroy Tavern ; Joe schüttelte Guy die Hand, und Robin küßte ihn auf die Wange. »Viel Glück, Guy«, sagte sie, die Furcht und die Unsicherheit hinter der Tollkühnheit erkennend. »Schreib ein schönes Gedicht. Schreib die Wahrheit.«
Sie gingen nicht gleich nach Hause, sondern spazierten schweigend durch die Straßen. Das weiche Licht der Gaslaternen verwischte die harten Konturen der Gebäude. In den Rinnsteinen knisterten vom Wind getriebene Blätter.
Robin sagte: »Guy hat erzählt, daß es im Winter in Madrid furchtbar kalt ist, Joe. Ich würde dir ja einen Schal und eine Mütze stricken, aber du weißt, daß ich bei so was zwei linke Hände habe.« Ihre Stimme zitterte nur ein klein wenig.
Er blieb unter einer Lampe stehen und sah sie an, ohne etwas zu sagen.
Sie lächelte. »Natürlich mußt du gehen, Joe. Ich weiß, daß du mußt.«
»Robin …« Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während er nach Worten suchte. »Ich kann einfach nicht mehr abseits stehen und zusehen. In München – im Olympia – fast die ganze Zeit habe ich mich verachtet. Ja, ich weiß, fotografieren war das einzige, was ich tun konnte , aber trotzdem – allmählich kommt man sich doch wie ein Mittäter vor, wenn man nur Zuschauer bleibt.«
Er legte seinen Arm um ihre Schultern, als sie weitergingen. »Schon so lange«, sagte er, »habe ich das Gefühl, daß ich etwas tun muß. Ich habe mich immer nur nutzlos gefühlt. Jetzt habe ich eine Chance, etwas zu tun.«
»Ich weiß«, antwortete sie leise. »Ich weiß.« Und doch fragte sie sich, als sie schweigend zu Joes Wohnung zurückgingen, wo sie denn nun bleiben würde. In England, allein, aber das konnte sie ertragen. Mit knapper Not. Doch Fragen, die nicht zu beantworten waren, quälten sie: Sie haßte den Faschismus so sehr wie Joe; aber im Gegensatz zu Joe war sie Pazifistin. Gab es einen Punkt, an dem aller Pazifismus scheiterte, an dem sie einfach vergessen mußte, was man ihrer Familie und so vielen anderen Menschen angetan hatte? Mußte auch sie akzeptieren, daß Gewalt nur mit Gewalt begegnet werden konnte?
»Wann fährst du?«
Sie hatten den Wohnblock erreicht. Joe sperrte die Tür auf.
»Nächste Woche, hoffe ich, wenn ich es mit Oscar
Weitere Kostenlose Bücher