Das Winterhaus
Lächeln trübte sich, als sie schnell den Brief von ihrem Vater überflog. Er enthielt keine schlechten Nachrichten, aber gedämpfte Mißbilligung war zwischen den Zeilen zu lesen. Die Enttäuschung ihres Vaters über ihren Entschluß, nicht nach Girton zu gehen, hatte ihr weh getan, doch sie hatte nichts anderes erwartet; seine fortgesetzten Zweifel an ihrer Entscheidung, auf eigenen Füßen zu stehen, überraschte sie. Sie hatte Verständnis für ihren Wunsch nach Selbständigkeit erwartet – schließlich waren Richard und Daisy beide der Meinung, Frauen hätten das gleiche Recht wie Männer auf Unabhängigkeit und Arbeit. »Du vergeudest deine Talente«, hatte ihr Vater Weihnachten zu ihr gesagt. Sie war verletzt und ärgerlich gewesen und hatte sich im Stich gelassen gefühlt. Einzig Hugh schien sie zu verstehen.
Während Robin sich die letzten Kekskrümel von den Fingern leckte, dachte sie an ihre Ankunft in London im vergangenen Herbst zurück. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wohin sie sich wenden sollte. Die Familie Summerhayes hatte zwar viele Freunde in London – Merlin und Persia und all die Bekannten und Nachbarn von früher –, aber es wäre ihr wie ein Zu-Kreuze-Kriechen vorgekommen, sich an diese zu wenden. Robin hatte sich für die erste Übernachtung ein kleines Hotel gesucht, aber es war viel zu teuer gewesen. Darum war sie gleich am nächsten Morgen losgegangen, um sich eine Unterkunft und Arbeit zu suchen. Arbeit hatte sie als Bürokraft bei einer Versicherungsgesellschaft gefunden – unglaublich langweilig, aber das Geld reichte für die Miete. Es war nicht das, was ihr vorgeschwebt war, aber sie tröstete sich damit, daß es ja nur vorübergehend sei. Sie hatte sehr bald festgestellt, daß gute Kenntnisse in Latein und Griechisch weit weniger nützlich waren als Maschineschreiben und Stenografie.
Die Salters hatte sie kennengelernt, als sie mit ihrem Fahrrad gestürzt war. Es war naß gewesen, das Kopfsteinpflaster, voll mit welkem Laub und Abfällen vom Flohmarkt, glitschig. Eddie und Jimmy, die Zwillinge, hatten sich halb totgelacht, als sie mitten in einer Pfütze gelandet war, Mrs. Salter jedoch hatte sie daraufhin mit in ihr Haus genommen, ihren Rock ausgebürstet und ihr erlaubt, sich die aufgeschrammten Hände zu waschen. Zum erstenmal hatte Robin einen Blick in eines der zahllosen kleinen Reihenhäuser geworfen, die ihren Weg von ihrer Wohnung zur Arbeitsstelle säumten, und sie war erschüttert gewesen. Sie hatte Armut auch in den Fens gesehen, aber dort hatten die weiten Himmel und die saubere Luft irgendwie mildernd gewirkt. Dies hier war nicht das London, an das Robin sich erinnerte und das sie liebte. Dies war ein winziges Vierzimmerhaus, in dem eine Familie mit sechs Kindern, geplagt von Ratten und Ungeziefer, zusammengepfercht war. Überall an der verschossenen Tapete klebten die zerdrückten schwarzen Leiber irgendwelcher Insekten. Zehn Menschen lebten in diesem Haus – Mr. und Mrs. Salter, die Kinder, eine Großmutter und ein Onkel. Selbst in der Küche stand ein notdürftiges Bett. Robin sah das Kleinkind, fast noch ein Säugling, das am Rockzipfel seiner Mutter hing, und sah Mrs. Salters dicken Bauch unter der Schürze und beschloß, ihr Marie Stopes' Buch zu leihen.
Manchmal reichte Robins Lohn nur bis zum Mittwoch, im allgemeinen jedoch schaffte sie es, ihn bis zum Wochenende zu strecken. Ihr Vater schickte ihr Geld, das sie dankend zurücksandte, mit der Erklärung, daß sie es aus eigener Kraft schaffen wolle. Sie war jedoch froh über die warmen Röcke und Pullover, die ihre Mutter ihr zu ihrem Geburtstag schickte. Abends, wenn sie nicht auf ILP-Versammlungen war oder in der Klinik arbeitete, übte sie an einer alten Schreibmaschine das Blindschreiben. Sie hatte kaum Besuch und bisher nur Bekannte, keine Freunde, aber manchmal war sie dennoch rundum glücklich. Abends, wenn sie in ihrem Bett lag und mit geschlossenen Augen den Geräuschen der Stadt lauschte, wußte sie, daß es richtig gewesen war, nach London zurückzukehren. Robin war überzeugt, daß bald etwas Wunderbares geschehen würde: Sie stand am Rand einer Klippe und bereitete sich zum Sprung ins wogende Meer des Lebens vor.
Robin kam früh zur Versammlung und setzte sich in die erste Reihe. Es waren noch kaum Leute im Saal, und ein oder zwei nickten ihr grüßend zu. Draußen regnete es; sie legte ihren nassen Regenmantel ab und lehnte ihren Schirm an den Stuhl. Sie war direkt von der Freien Klinik
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