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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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allmählich eine Küste mit Felsen und Stränden und Häfen.
    »Ist es deine erste Reise?« fragte Joe.
    Robin nickte. »Ich bin noch nie aus England herausgekommen. Das heißt, einmal waren wir im Urlaub in Schottland. Und du, Joe?«
    »Ich war als Kind hier, mit meiner Mutter.«
    Sie sah ihn erstaunt an.
    »Meine Mutter war Französin. Wir wohnten damals bei ihrer Familie in Paris … vielleicht zwei- oder dreimal. Aber nach ihrem Tod habe ich die Verbindung verloren.«
    »Leben deine Verwandten noch dort?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Er hatte, dachte sie, schon immer etwas Wurzelloses. Neugierig fragte sie: »Hast du vor, sie zu besuchen?«
    »Vielleicht. Francis möchte in Deauville bleiben – er glaubt, daß Vivien vielleicht mal vorbeischaut. Aber ich fahre vielleicht nach Paris.«
    Sie wollte noch mehr fragen, aber hinter ihr erklang ein Stöhnen.
    Nachmittags um vier, unter Regengüssen und von Schwärmen kreischender Möwen umgeben, legte die Fähre an. Auf der Zugfahrt von Dieppe nach Deauville wurde Francis langsam wieder munter und zauberte eine Flasche Champagner und eine Tafel Schokolade aus seinem Rucksack. Das einzige Heilmittel gegen Seekrankheit, behauptete er, während er die Schokolade in Stücke brach und sie unter den Passagieren des Dritter-Klasse-Abteils verteilte – kleine Kinder, streng aussehende Großmütter in Schwarz und ein Hund.
    Angus' Wohnung hatte Blick aufs Meer. Es gab zwei Schlafzimmer, eines für Francis und eines für Robin. Joe würde auf dem Sofa schlafen. Es gab ein Bord voll zweifelhafter Bücher und nichts zu essen außer einer uralten Dose Lachs. Der Sturm jagte vom Kanal herein und würgte das blecherne Gequake aus Angus' Kristallautsprecher ab. Sie aßen Lachs und Schokolade und tranken die Flasche sehr billigen Calvados, die Joe im Zug einem Bauern abgekauft hatte.
    Drei Tage vor Weihnachten trampte Joe auf Lastwagen und Fuhrwerken nach Paris.
    Der Sturm hatte nachgelassen, es ging nur ein leichter Wind, die Luft war klar und kalt. Das Paris, das Joe aus seiner Kindheit als Märchenstadt in Erinnerung hatte, erschien ihm noch genauso märchenhaft wie damals. Die prächtigen Boulevards, die breiten Alleen und die gepflasterten Plätze waren mit einer dünnen Reifschicht überzogen. Neben Paris, der Stadt des Lichts, erschienen die Industriestädte Nordenglands wie Verkörperungen der Finsternis.
    Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Sich rundum von Menschen umgeben zu sehen, die eine andere Sprache sprachen, brachte ihn auf eine Weise durcheinander, wie er es nicht erwartet hatte, und versetzte ihn plötzlich und unvermittelt in die Vergangenheit zurück. Wann immer sie unter sich gewesen waren, hatte seine Mutter mit ihm französisch gesprochen. Sein Vater hatte die Sprache verabscheut und behauptet, kein anständiger Engländer könne sie aussprechen. Als Joe aufs Internat gekommen war, war sein Französisch perfekt gewesen, nur um von einem Lehrer, der nie einen Fuß aus England hinausgesetzt hatte, verstümmelt zu werden. Er fühlte sich jetzt unsicher in der Sprache, stets einen Schritt davon entfernt, sie wirklich zu beherrschen.
    Er fand die Straße schließlich, ging die Reihe der Häuser entlang, bis er vor Nummer 50 stand – einem eleganten vierstöckigen Gebäude mit beeindruckendem Portal, zu dem eine Treppe mit verschnörkeltem schmiedeeisernem Geländer hinaufführte. Hinter einem der Fenster war ein mit Kerzen geschmückter Christbaum zu sehen. Er blieb eine Weile draußen stehen und erinnerte sich. Eine junge Frau mit dem weißen Häubchen eines Dienstmädchens beobachtete ihn mißtrauisch durch das Fenster. Joe warf ihr einen Handkuß zu und ging ins Café gegenüber.
    Das Café war ganz karminroter Plüsch und ornamentale Art nouveau voll Spiegel und Lampen. Der Kellner sah Joe von oben herab an und wollte ihn zu einem Platz ganz hinten führen, doch Joe bestand auf einem Tisch am Fenster. Es war nur einer frei, an den anderen drängten sich Studenten, die laut redeten und viel tranken. Joe bestellte Kaffee und einen Tresterbranntwein.
    Dann zündete er eine Zigarette an und starrte zum Fenster hinaus. Die Tür des Hauses öffnete sich, und eine Frau stieg die Treppe herunter. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen; sie war in Pelze gehüllt und hatte eine schmale Cloche auf dem Kopf. Ein kleiner aprikosenfarbener Pudel folgte ihr. Sie entsprach nicht seinen Erinnerungen an grand-mère , eine respekteinflößende, würdevolle Person. Joe sah

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