Das Winterhaus
nicht zurecht. Als sie die Zahlenreihen zusammenzählte, sah es so aus, als hätte sie mehr Geld ausgegeben, als sie nach Ely mitgenommen hatte. Das konnte nun wirklich nicht stimmen. Sie nahm einen neuen Anlauf, und diesmal kam die Gesamtsumme auf zwei Shilling und sieben Pence, was ihr unglaublich wenig zu sein schien. Müde, mit schmerzendem Kopf klappte Helen das Büchlein zu und legte ihren Kopf auf die Arme. Die Geldgeschichten beunruhigten sie. Sie mochte ihren Vater nicht um Hilfe bitten; der würde nur sagen, sie habe sich zuviel zugemutet. Plötzlich dachte sie an Hugh Summerhayes. Hugh war gescheit und geduldig, er würde es ihr bestimmt nicht übelnehmen, wenn sie ihn um Hilfe bat. Sie dachte daran, wie sie und Hugh im Winterhaus zusammen getanzt hatten, und erinnerte sich der Wärme, mit der er sie gehalten hatte, der ruhigen, sicheren Anmut seiner Bewegungen. Hugh würde alles in Ordnung bringen. Helen lächelte und schlief ein.
Als sie erwachte, war sie nicht mehr allein. Sie schlug die Augen auf und sah ihren Vater gegenüber am Tisch sitzen und sie beobachten. Sie hatte keine Ahnung, wie lange er schon da war.
Eine Woche vor Weihnachten rief der Abteilungsleiter der Versicherungsgesellschaft Robin zu sich, um mit ihr zu sprechen. Da er nuschelte und ihr partout nicht ins Gesicht sehen wollte, brauchte sie eine Weile, um zu begreifen, was er sagte. Irgend etwas von Modernisierung und Einsparungen. Sie rief empört: »Sie wollen mich entlassen.«
»Wir bedauern sehr, Miss Summerhayes, aber in der gegenwärtigen Situation –«
»Aber Sie können doch nicht einfach –«
Doch offenbar konnte er. Es seien schwierige Zeiten, sie sei erst knapp ein Jahr bei der Firma, und ihre Leistungen seien, um es höflich auszudrücken, recht schwankend gewesen. Wenig später ging Robin in Hut und Mantel und mit einem Wochenlohn in der Tasche zur Tür hinaus.
Zu ihrer Freude war Francis zu Hause. Sie hatte ihn immer wieder einmal gesehen, seit sie wieder in London war. Ohne Mühe hatte sie wieder in die frühere lockere Freundschaft gelegentlicher Zusammentreffen bei politischen Versammlungen oder irgendwelchen Festen hineingefunden. Jeden flüchtigen Gedanken daran, daß Francis ihr mehr werden könnte als ein Freund, hatte sie verdrängt. Als er sie in Long Ferry geküßt hatte, waren sie schließlich beide ziemlich betrunken gewesen.
Francis machte eine Flasche Bier auf. »Die erste Entlassung muß gefeiert werden.« Er hob sein Glas. »Auf Scheitern in Schimpf und Schande.«
Sie kicherte und fühlte sich gleich besser. »Aber wovon soll ich jetzt leben, Francis? Meine Miete ist bis Ende Dezember bezahlt, und ich hab noch – warte mal –« Sie sah in ihr Portemonnaie. »– sechs Pfund, zwölf Shilling und zwei Pence.«
»Du solltest nach Frankreich mitkommen. In Frankreich ist das Leben viel billiger.«
Sie hörten Joe kommen. Es regnete immer noch, und sein dunkles Haar klebte ihm naß am Kopf.
»Ich hab Robin eben vorgeschlagen«, sagte Francis, während er ein drittes Glas Bier einschenkte, »daß sie mit uns nach Frankreich kommen soll.«
»Warum nicht?« Joe legte seine nasse Jacke ab und hängte sie über eine Stuhllehne.
»Angus hat eine Wohnung in Deauville – Vivien hat mir den Schlüssel gegeben. Du kannst unmöglich über Weihnachten in England bleiben, Robin. Das ist doch stinklangweilig. Truthahn und Plumpudding und müde Gesellschaftsspiele …«
»Vielleicht«, meinte Joe vielsagend, »hat Robin vor, über Weihnachten nach Hause zu fahren.«
»In den Schoß der Familie …«
Die Vorstellung entsetzte sie. In die grauen, nassen Fens, mitten hinein in Familienzwist und Familienrituale. Unerträglich diese Vorstellung.
»Frankreich!« rief sie. Sie hatte immer die Sehnsucht gehabt zu reisen. »Oh, Joe … Francis! Das wäre herrlich!«
Zwei Tage später war sie auf der Kanalfähre. Weder sie noch Joe wurden seekrank auf der rauhen Überfahrt; Francis jedoch lag in seinen Mantel eingewickelt stöhnend auf einer Bank an Deck. Er würde es nur durchhalten, sagte er, wenn Robin ihm vorläse. Sie las ihm aus dem Sportteil des Daily Express vor, alles über Fußball und Pferderennen und Hunderennen.
»Grauenvoll«, murmelte Francis. »So herrlich langweilig.«
Dann schlief er ein.
Sie stand neben Joe an der Reling und starrte durch Nebel und Dunkelheit, als sie zum erstenmal den Kontinent sah. Frankreich tauchte aus der Düsternis auf, zunächst nur ein dunkler Streifen Land, dann
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