Das Wuestenhaus
Immer wieder lachte sie Sie an, hob das Glas in Ihre Richtung. Es stellte sich heraus, dass sie aus der gleichen Gegend in Süddeutschland kam wie wir. Als Kind war sie in die Schule gegangen, in der meine Mutter ihre ersten Berufsjahre verbracht hatte.
»Gibt es noch die alte Aula? Zu meiner Zeit wollten sie das Hauptgebäude abreißen und einen Neubau an die Stelle setzen. Ich war so lange nicht mehr da.«
»Zum Glück ist es nicht dazu gekommen! Heute ist die Schulleitung froh, dass sie die Aula haben. Der Raum hat eine wunderbare Akustik. Ich singe in einem Chor, und manchmal veranstalten wir da Konzerte. Ich bin gern dort.«
»So ist das immer, nicht wahr, dass das Alte zu wenig geschätzt wird in unserem Land?«
Meine Mutter war glücklich, über solche Dinge sprechen zu können. Die Frau führte meine Eltern etwas zur Seite, wo sich ein Stapel mit Kühlboxen befand, kartonartige Kisten, in denen holländische Bierbüchsen und mehrere Flaschen Wein lagen. Die Frau vom Konsulat sagte, es werde hier nicht so gern gesehen, wenn Frauen Alkohol tränken, daher müssten wir etwas geschickt vorgehen. Ihr sei aber jetzt nach einem Glas Weißwein, zumal der Botschafter eine Kiste Weißburgunder aus der Kaiserstuhl-Region mit einer Lieferung aus Tunis geschickt habe, ein vorzüglicher Wein, mit dem sie gern anstoßen wolle. In diesem Land, meinte sie, mache es nicht viel Spaß, Ausländerin zu sein. In der letzten Zeit häuften sich zudem einige merkwürdige Ereignisse, die darauf hinwiesen, dass die orthodoxen Kräfte, »alte wie junge Männer«, im Hintergrund wieder die Oberhand gewönnen. Natürlich sei das eine unbeliebte Minderheit, aber solche Entwicklungen müsse man sorgsam im Blick behalten. Die Frau holte ein paar Gläser und drückte auch mir eines in die Hand.
Sie hatten sich entschuldigt, plauderten nun mit anderen Gästen, fast unauffällig, nie laut lachend, immer ein leises Französisch sprechend, alle guten Eigenschaften präsentierend, mit denen Sie meine Eltern so beeindruckten. Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten, zumal mir in der Hitze der Wein ziemlichen Schwindel verursachte. Irgendwann hielt jemand unter dem Schattendach der Pinie eine Rede, wahrscheinlich der Gastgeber, dann tauchte eine
Gruppe junger Männer auf, die ihren Kleinlaster am Eingang geparkt hatten. »Oudspieler und Bouzoukspieler«, wie uns die Frau vom Konsulat erklärte. Sie spielten erst ein paar langsame Lieder. Später wechselten sie in einen Rhythmus über, der mich an die Lieder erinnerte, die ich im Radio gehört hatte. Einige Leute begannen zu tanzen. Mein Vater bot Ihnen ein weiteres Glas von dem Weißburgunder an. Ich sah, dass er selbst schon mindestens drei oder vier Gläser getrunken hatte. Er schien sich plötzlich richtig wohlzufühlen. Sein Gesicht war schon leicht gerötet. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den ich lange nicht mehr an ihm gesehen hatte: voller Lebensfreude, kindlicher Faszination - und ja, dieses Wort trifft wirklich zu: Glück. Er war für einen Moment lang sehr glücklich. Er hatte das Gefühl, in dieser Welt als ein normaler Gast dazuzugehören. Nicht als Tourist, der zufällig mitgenommen wurde, sondern als gleichwertiger Gast unter gleichwertigen Gästen. Dieses Gefühl haben Sie ihm gegeben.
Unter anderen Umständen wäre das vielleicht sogar bewundernswert gewesen, aber ich glaube, Sie wussten, oder zumindest hätten Sie es ahnen können, dass dies nur eine vorgegaukelte Nähe war, ohne jede Bedeutung für Sie.
Während die Oudgruppe schnellere Lieder spielte, begannen immer mehr Leute zu tanzen. Nach einer Weile nahm auch mein Vater meine Mutter an die Hand, führte sie auf das kleine Rondell unter dem Baum und tanzte mit ihr. Es sah etwas ungeschickt
aus. Beide waren die Rhythmen dieser Musik nicht gewohnt. Es war dunkel geworden, und die Beleuchtung - ich erinnere mich an ein sanftes Ineinanderfließen schwach leuchtender Orangetöne - war nicht sonderlich stark. So bekam niemand mit, dass ihr Tanz etwas hölzern wirkte. Ich saß in dem Korbstuhl auf der Veranda und beobachtete meine Eltern, während einige der jungen Musiker mir immer wieder freundlich zuwinkten.
Sie sprachen währenddessen mit der Frau vom Konsulat. Wahrscheinlich gefiel sie Ihnen, jedenfalls hörte man Sie beide ein paarmal auflachen. Schließlich tanzten Sie mit ihr. Natürlich sah das geübter und eleganter aus als bei meinen Eltern, wenn es auch kein Vergleich war zu den Leuten von der
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