Das Wuestenhaus
»Es tut mir leid, Bernhard. Ich wollte dich nicht verletzen. Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Es ist alles plötzlich wieder so nah und lebendig.«
Ihre Stimme wirkte verändert, ruhiger und selbstsicherer als vor unserer Abreise. Ich sagte zu ihr: »Ist schon gut«, und schlug vor, etwas essen zu gehen. Sie lächelte mich an und sagte, nur unter der Bedingung,
dass sie mich einladen dürfe. Dann verschwand sie im Bad, zog sich um, und wir verließen das Hotelzimmer.
In der Lobby des Hotels kamen uns Männer mit langen, bis über die Knie reichenden Gewändern entgegen. Ihre Gesichter trugen stolz diese typischen, an den Rändern ausfransenden Bärte, wie wir sie auf den Fotos gesehen hatten.
Es waren drei oder vier kräftige Gestalten und ein etwa zehnjähriger Junge, der ständig vor den an den Seitenwänden aufgestellten Glasvitrinen stehen blieb und erst nach mehrmaligen Zurufen seinen Leuten folgte.
Ich hatte den Eindruck, dass die Männer uns bemerkt hatten und ihre Schritte auffällig verlangsamten.
Ich dachte wieder an die Worte der Dolmetscherin. Gab es nicht vielleicht doch ein Netz aus Informationen in diesen Kreisen, Menschen, die sich für unseren Aufenthalt und den Zweck unserer Reise nach Paris interessierten, so kurz vor dem Prozess? Oder war das eine vollkommen unsinnige Annahme?
Maja sah mich kurz an, als ob sie meine Gedanken erraten hätte. Sie hielt die Idee, dass die Männer sich wegen uns anders verhielten, offensichtlich für einen absurden Verdacht. Mir verursachte diese Vorstellung einen stechenden Druck in der Magengegend. Die Männer blieben vor dem Treppenaufgang stehen; einer von ihnen - er trug ein langes weißes Gewand - holte sein Mobiltelefon hervor und begann, laut und auffällig gestikulierend zu sprechen.
Dann gingen sie an uns vorbei, sich dicht in unsere Nähe drängend. Die Schulter des einen Mannes berührte plötzlich meinen Oberarm; ich war mir sicher, dass er mich zur Seite zu drängen versuchte, und wollte mich unmissverständlich zur Wehr setzen. Maja griff nach meiner Hand. »Du hast jetzt richtig Hunger, oder?«, sagte sie und zog mich fort.
Wir fanden ein chinesisches Restaurant an einem Platz, der sich wenige Straßen entfernt neben einem Kanal erhob. Das Restaurant war schlecht beleuchtet und lag in einer Art rotstichigem Halbdunkel. Maja bestellte nur einen Salat.
Als ich das erste Bier getrunken hatte, überfiel mich eine komische Nervosität. Ich hatte geglaubt, dass ich den Anblick der alten Straßen und wunderschönen Gebäude würde genießen können, aber stattdessen wünschte ich mir nichts mehr, als so schnell wie möglich mit Maja nach Hause zurückzukehren und ein normales Leben weiterzuführen, in dem es keine »gefährlichen Gruppierungen«, »Codes« und »Sonderkommandos« gab, Begriffe, die immer wieder während der Vernehmungen gefallen waren. Zugleich wollte ich unbedingt herausfinden, ob Maja sich mit Ihnen getroffen hatte.
Ich erinnere mich noch sehr genau an das Essen in diesem fast leeren Restaurant, weil Maja hier das erste Mal seit dem Anschlag zuließ, dass etwas Kritisches über ihre Eltern zur Sprache kam. Jedes Wort dieses Gesprächs ist mir noch ganz gegenwärtig. Sie machte einen Scherz, der nicht zu ihr
passte: »Ich glaube, Paris ist nicht mehr die Stadt der Liebe.«
Ich reagierte nicht darauf und sagte lediglich: »Es ist doch eine schöne Stadt.«
»Bist du früher nie auf die Idee gekommen, mal mit Sabine hierherzufahren? Ich meine, es ist überhaupt nicht weit. Nur ihr beide.«
»Wir haben unsere Hochzeitsreise in den Bayerischen Wald gemacht. Damals war es nicht üblich, ins Ausland zu reisen, wenn man kein Geld hatte.«
»Du hast doch schon gearbeitet.«
»Sabine wollte unbedingt ein Haus haben. Das war schon immer ihr Wunsch gewesen. Sie hat darüber geredet, seit ich sie kenne. Ein Haus und Kinder. Darauf haben wir gespart. Mit den Kindern hat es ja leider nicht geklappt.«
»Ihr hättet euch Geld von meinen Eltern leihen können. Du weißt, sie hätten sich gefreut, euch was zu geben.«
»Ich mag es nicht, mir etwas zu leihen. Mir fehlt auch nichts. Manchmal hat es mich aufgeregt, wenn dein Vater mir Ratschläge geben wollte, wie man Geld richtig anlegt.«
»Was ist so schlimm daran? Er kannte sich einfach ein bisschen damit aus.«
»Nichts ist schlimm dran. Nur hat es nicht zu seinen anderen Reden gepasst - die böse Gesellschaft, in der die Kunst verschwindet. Und er selbst? Ich habe nie
Weitere Kostenlose Bücher