Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
schreien. Welch ein Laut von diesem kleinen Bündel Mensch! Ich hatte Angst, sie könnte einen Anfall haben, und wiegte sie und versuchte, sie zu beruhigen. Ihre blassen Wangen wurden rosig, dann war ihr ganzes Gesicht rot vor lauter Schreien. Wäre es eines meiner anderen Kinder gewesen, hätte ich gesagt, dass sie entrüstet war, weil sie nicht schnell genug zu trinken bekam.
»Füttere sie«, flüsterte Pía, »füttere sie jetzt gleich. Nun wird alles gut.« Sie schloss die Augen, doch das Lächeln verharrte auf ihrem Gesicht. »Lebt wohl. Die Dämonen sind verschwunden. Ich habe sie bezwungen. Füttere sie.«
Ich legte das Baby an meine Brust und zu meiner Überraschung und Freude sog Isabelita gierig, lächelte mich an und schlief ein, während ihr Milch aus dem rosigen kleinen Mund lief. Als ich aufsah, war Pía tot.
In jener Nacht war mir nicht einmal der von ständigem Schrecken begleitete Halbschlaf vergönnt, der alles war, was ich seit Isabelitas Geburt an Nachtruhe hatte. Staunen und Trauer hielten mich wach und das Baby selbst. Isabelita wachte oft auf und wollte gefüttert werden. Bei der Trauermesse, die drei Tage später stattfand, war sie ruhig, aber wach, hob den Kopf von meiner Schulter und sieht sich aufmerksam um. Ich hob sie hoch, damit sie Pías Sarg sehen konnte und der Weihrauch ließ sie niesen. Dabei trampelte sie und ruderte mit den Armen und kreischte ärgerlich. Dann trank sie noch einmal, bis ich keine Milch mehr hatte, und in jener Nacht schliefen wir beide tief und fest, sie und ich, zum ersten Mal seit ihrer Geburt.
Wir schliefen so fest, dass ich zu Tode erschrak, als ich erwachte und das pfeifende Geräusch nicht hörte, das ihr Atem beim Schlafen macht, oder die traurigen kleinen Klagelaute, die sie macht, wenn sie wach ist. Hatte ich mich getäuscht? Ging es ihr doch nicht besser? War sie in der Nacht gestorben? Nein, sie lag neben mir auf dem Bett und nuckelte zufrieden an ihrem Daumen. Die Medaille hatte sie immer noch um den Hals. Sie sah mich an, ihr Daumen rutschte ihr aus dem breit grinsenden Mund und dann gluckste sie, wedelte mit den Armen und trat mit den Füßen.
Zu Hause trinkt sie gut und lächelt und kräht entzückt, wenn sie ihre Schwester und ihren Bruder sieht. Sie kaut auf allem, was sie greifen kann, lacht, wenn jemand ihren Blick auffängt, und hat sich zu einem rundlichen frechen Äffchen entwickelt. Wenn Don Miguel Isabelita ansieht und lächelt, sehe ich, wie tief die Furchen in seinem Gesicht geworden sind, wie Felsspalten.
Auf der Hazienda der Sonne und des Mondes, September 1563
Isabelita tröstet uns. Salomé ist tot. Die Hazienda der Sonne und des Mondes fühlt sich leer an. Ich kann nicht mehr schreiben.
KAPITEL 33
Aus der Chronik der Sors Santas de Jes ú s, aus der Feder von Doña Isabelita Beltrán de Aguilar, auf der Hazienda der Sonne und des Mondes, 1597 A. Ð .
Ich hoffe, dass meine liebe Mutter, Esperanza, es für richtig und angemessen halten würde, dass der letzte Eintrag in diese Chronik von derselben Isabelita niedergeschrieben wird, der Pías Medaille vor so langer Zeit das Leben gerettet hat. Meine Mutter hatte die Chronik seit diesem Ereignis nicht mehr weitergeführt, doch nun soll die Chronik die Hazienda der Sonne und des Mondes verlassen, und ich werde erklären, wohin sie reist und warum.
Ich werde mit dem Brief beginnen, den meine Mutter vor einem halben Jahr von La Flor erhielt. Natürlich hat jedermann von La Flor gehört, von der legendären Verführerin, die so viele Jahre lang kreuz und quer durch Neu-Spanien tanzte und sang und unzählige gebrochene Herzen zurückließ. Ihre Laufbahn endete in Mexiko-Stadt mit einem gigantischen Skandal, als zwei wohlbekannte Verehrer sich eines Nachts ihretwegen vor der Oper duellierten, in der sie auftrat, und sich gegenseitig zu Krüppeln machten. Doch erst als meine Mutter ihren Brief aus Mexiko erhielt, erfuhr ich, das La Flor ein und dieselbe Person ist, die meine Mutter liebevoll »Sanchia« nannte. Sanchia/La Flor schrieb, dass sie meine Eltern vielmals um Vergebung bitten müsse, dass sie hoffe, sie könnten sich in dieser Welt noch einmal sehen, sodass sie ihre Entschuldigungen persönlich vorbringen könne, und dass sie uns einen Besuch abstatten werde, falls sie dies erlaubten.
In ihrem Brief fragte sie, ob meine Mutter immer noch diese Chronik führe. Wenn dem so sei, würde sie gerne ihre Erinnerung auffrischen, bevor sie »nach Hause« fahre. Meine Mutter sagte,
Weitere Kostenlose Bücher