Das Zeichen des fremden Ritters
gekleidet. Nun, es ging um die Ehre unseres Herrn, also mussten wir einen aus unserem Kreis finden, der diese Herausforderung für ihn annahm. Die Wahl fiel auf mich, weil ich, so muss ich gestehen, meine Pflichten als Ritter ein wenig vernachlässigt hatte. Aber ich
bin
ein Ritter und |92| so sagte ich zu. Gleich am nächsten Morgen stieg ich auf mein Pferd und ritt davon.«
Sir Thomas blickte auf seine Zuhörer, die sich auf den Boden vor ihn gesetzt hatten und gebannt lauschten. Besonders Agnes hing an seinen Lippen, denn sie liebte Rittergeschichten. Und dies hier war sogar eine wahre Geschichte! Sir Thomas lächelte und erzählte weiter.
»Vieles habe ich erlebt, sogar Unglaubliches. Einmal sah ich eine Wüste, wo sonst blühende Wiesen und Felder waren, wie der Herr über das Land mir versicherte. Ein Zauber bannte den Regen in einer Quelle im Wald. Der Stein, der diese Quelle bedeckte, war zu schwer für die menschliche Kraft. Aber ich bat Gott um seine Hilfe und konnte ihn bewegen. Kaum hatte ich den Stein beiseitegeschoben, regnete es in Strömen.
Da tauchte ein Ritter in schwarzer Rüstung auf und forderte mich zum Schwertkampf. Er behauptete, die Quelle gehöre ihm und ich hätte sie zerstört. Wir kämpften bis zur Abenddämmerung, als er mich schließlich besiegte. Er tötete mich nicht, aber er schleppte mich zu seiner Burg und sperrte mich in einen Raum ohne Licht und Luft. Am nächsten Tag band er mich auf einen Karren und ließ mich wie einen Verbrecher zu einem Schiff fahren, das mich nach Frankreich bringen sollte. Mit dieser schmählichen Niederlage hatte ich die Ehre meines Herrn nicht bewiesen!
Ich besorgte mir ein Pferd und ritt immer weiter. Viele Abenteuer musste ich bestehen, die erfolgreicher waren, und viel Zeit verging, bis ich schließlich an einen |93| großen Fluss kam. Ein Fährmann setzte mich über und ich ritt am Fluss entlang nach Norden. Es war Winter geworden, ich hatte tagelang nichts gegessen und wusste nicht, wo ich war. Da wurde ich ohnmächtig und fiel von meinem Pferd. Und den Rest der Geschichte kennt ihr.«
Agnes seufzte. »Fast wie bei König Artus!«
»Er ist ein großes Vorbild«, nickte Sir Thomas. Er unterdrückte ein Gähnen. »Es tut mir leid, aber ich bin sehr müde. Alles ist immer noch anstrengend für mich.«
Konrad reagierte sofort. »Wir verlassen Euch jetzt am besten, damit Ihr Euch ausruhen könnt.«
Die Kinder verabschiedeten sich und gingen hinaus in den Burghof. Es war Abend geworden. Hier und da brannten Fackeln an den Mauern. Das flackernde Licht ließ den verschneiten Burghof gespenstisch aussehen. Geisterhafte Schatten schienen sich im Halbdunkel zu bewegen. Den Kindern liefen Schauer über den Rücken und das lag nicht nur am eisigen Wind. Rasch führte Konrad sie in die Kapelle und schloss die Tür, damit sie sich beraten konnten. Zwei Kerzen brannten auf dem Altar. Das war nicht viel Licht, aber wenigstens war es nicht völlig dunkel.
»Was war das denn für eine Geschichte?«, fragte Jakob leise. »Glaubt ihr die?«
»Sie war wie bei den Artusgeschichten, die der Gaukler im Sommer erzählt hat«, schwärmte Agnes.
»Genau«, flüsterte Hannes. »Eine Gauklergeschichte.«
»Was? Meint ihr vielleicht, Sir Thomas lügt?«, zischte Agnes empört.
|94| »Leider ja«, nickte Konrad verärgert. »Das meiste kenne ich. Es ist aus den alten französischen Geschichten, die meine Mutter sich gern vorlesen lässt. Meine Tante hat sie mal mitgebracht. Da geht es um Iwein, einen Ritter von König Artus’ Tafelrunde. Er beschwört ein Unwetter an einer verzauberten Quelle herauf, erschlägt einen anderen Ritter und erlebt noch viel mehr. Diese Geschichte kannte meine Mutter schon, die gibt es nämlich auch auf Deutsch. Sir Thomas hat alles nur ein bisschen verändert. Und in der anderen Geschichte geht es um den Ritter Lancelot, der wie ein Verbrecher in einen Karren steigt, weil er hofft, der Karrenlenker könnte ihm sagen, wo die entführte Königin ist. Abenteuersuche! So was tun Ritter doch gar nicht. Da gibt es ganzandere Sachen, die sie machen müssen. Und deshalb kann man ihm nicht glauben.« Er stampfte zornig mit dem Fuß auf.
Agnes blickte Konrad entsetzt an. Wie hatte Sir Thomas sie nur so hereinlegen können!
»Und ich habe sogar gemerkt, dass er irgendwie so … so verkrampft ist!«, ärgerte sie sich.
»Ist dir das auch aufgefallen?«, fragte Jakob. »Ob er überhaupt ein Ritter ist?«
Konrad zuckte die Schultern. »Heute
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