Das zerbrochene Siegel - Roman
üben. Ich bin erst kürzlich unserer Infirmarin als Hilfe im Hospiz beigestellt worden. Da gibt es noch vieles für mich zu lernen.«
Dankbar um ihre Freundlichkeit, erwiderte Garsende das Lächeln. »Keine Sorge, ich werde Euch genau erklären, was ich tue und warum.«
Schwester Lukas erwies sich als anstellig und wissbegierig, und als sie zur Sext die Krankenstube verließ, um sich ihren Mitschwestern zum Gebet in der Kirche anzuschlie ßen, dachte Garsende im Stillen, dass die Nonne eine gute Heilerin werden würde, wenn sich jemand fand, der sie in dem Handwerk unterwies. Nach der Behandlung, die man Beatrix bisher hatte angedeihen lassen, bezweifelte sie jedoch, dass Schwester Walburga das tun konnte. Sonnenblüten und gelöschter Wein waren gewiss nicht verkehrt, um ein Fieber zu bekämpfen, doch fehlte Schwester Walburga offenbar die nötige Erfahrung, um zu erkennen, dass Beatrix’ Befinden über diese Mittel bereits hinaus war.
Nach der Sext brachte eine Hörige eine Schüssel mit einem Brei aus Roggen und dicken Rüben in die Zelle, und während Garsende das Mittagsmahl zu sich nahm, beobachtete sie besorgt die Kranke. Das Wichtigste war, ihren Magen zu beruhigen, damit sie die Heilmittel, die sie brauchte, auch bei sich behalten konnte. Würde Garsende das nicht gelingen, mochte es zu spät sein.
Sie seufzte. Es würde womöglich keines Meuchlers bedürfen, um Beatrix ins Grab zu bringen.
Nachdem sie die leere Schale beiseitegestellt hatte, setzte sie sich wieder an Beatrix’ Lager und beträufelte ihre Lippen in kurzen Abständen mit einem Absud aus Fenchel. In ihrem Fieberschlaf leckte sich Beatrix wie von selbst die Tropfen von den Lippen.
Am späten Nachmittag kehrte Schwester Lukas in die
Krankenstube zurück. Garsende zeigte ihr, wie sie den Mund der Kranken mit dem Absud benetzen musste. Dann ergriff sie die Gelegenheit, um frische Luft zu atmen und ihre verkrampften Glieder zu strecken. Ihr Ziel war der Garten der Nonnen. Die Äbtissin hatte ihr den Zugang zum Kreuzgang gestattet, damit sie sich die Beine vertreten konnte, ohne sich allzu weit von ihrem Schützling entfernen zu müssen. Von dort aus gelangte man in der Klostergarten. Auch wenn die Beete jetzt mit Schnee bedeckt waren, war Garsende neugierig zu sehen, wie die Schwestern ihn angelegt hatten.
Just zog sie die Pforte der Krankenstube hinter sich zu, als sich die Pforte zur Nachbarzelle öffnete.
»Du?«
Für einen Augenblick hatte Garsende das Gefühl, als würde der Blick der tiefblauen Augen sie durchbohren. Dann neigte Serafina von Asti grüßend den Kopf, und der Blick verschwand unter gesenkten Lidern.
Mit einem höflichen Nicken erwiderte die Heilerin den Gruß und schickte sich an, ihren Weg fortzusetzen. Doch Serafina stellte sich ihr in den Weg und griff nach ihrem Arm.
»Die Ehrwürdige Mutter sprach gestern im Refektorium davon, dass eine Kräuterfrau aus der Nähe sich zukünftig um Beatrix kümmern würde«, sagte sie. »Du wirst dich also der Kranken annehmen?«
»So ist es«, bestätigte Garsende und starrte ungehalten auf die Hand der jungen Frau, die noch immer ihren Arm festhielt.
Ein schmales Lächeln glitt über Serafinas ebenmäßigen Züge, während sie langsam ihren Griff löste.
»Ich bin überrascht, dass die Nonnen dergleichen einer Fremden gestatten. Du musst über ganz besondere Fähigkeiten verfügen.«
»Nicht mehr als jede andere, die sich auf mein Handwerk versteht«, erwiderte Garsende.
»Wie bescheiden von dir. Und verstehst du dich genügend darauf, um der Kranken Heilung zu bringen?«
Nichtssagend zuckte Garsende mit den Schultern. »Mit Gottes Hilfe, vielleicht.«
»Gott könnte beschlossen haben, dass Beatrix’ Zeit gekommen ist.« Serafina senkte den Blick und strich glättend über ihren faltenlosen, weiten Ärmel.
»Was meint Ihr damit?«, entfuhr es Garsende.
Mit einem leisen Lachen hob die junge Frau den Kopf. »Warum so heftig, Heilerin? Unterliegt nicht jedermanns Schicksal der Gnade Unseres Herrn?« Unvermittelt kühl sah sie Garsende direkt in die Augen. »Einem höheren Ratschluss hast auch du dich zu beugen, ist es nicht so?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, raffte Serafina von Asti ihr reich besticktes Gewand, drehte sich um und schwebte leichtfüßig den Gang hinunter.
Reglos verharrte Garsende, bis ihre Schritte auf der Treppe nach unten verklungen waren. Dann erst spürte sie, wie der angehaltene Atem ihre Lunge verließ und ihre Glieder sich allmählich
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