Dave Duncan
Ungeheuerlichkeit warf Rap nieder. Sein ganzes Leben lang hatte König Holindarn Krasnegar regiert, ein unnahbarer, wohlwollender, alles sehender Vater für sein Volk, um so mehr für einen Jungen ohne eigenen Vater. Er war ihm so stark und beständig erschienen wie ein Felsen.
Der Gedanke, daß er eines Tages nicht mehr da sein könnte, schien ihm unmöglich.
»Inos! Oh, arme Inos! Wenn der Frühling kommt, wird sie darauf warten, daß das erste Schiff seine Briefe bringt, aber statt dessen wird sie diese Nachricht bekommen.«
»Wer weiß, welche Nachrichten es bringen wird?«
»Was meinst du?«
In der Dunkelheit sagte ihm nur seine Sehergabe, daß Andor mit den Achseln zuckte. »Wenn ein König stirbt, sollte besser sein Nachfolger da sein und sich bereit halten.«
»Du meinst, jemand könnte versuchen, den Thron zu stehlen?« Aber offensichtlich meinte Andor das – dumme Frage. Versuch, dich wie ein erwachsener Mann zu benehmen, Dummkopf! »Wer würde das tun?«
»Jeder, der glaubt, er käme damit durch. Sergeant Thosolin hat bewaffnete Männer. Foronod könnte glauben, er sei ein besserer Monarch als ein schmächtiges Mädchen, und viele andere würden ihm zustimmen. Außerdem wird die Nachricht sicher früher Nordland als Kinvale erreichen, und die Thans werden sich auf diese Neuigkeit stürzen wie Killerwale auf Seehunde. Wenn Inos dann nicht hier ist, wird sie nur wenige Chancen haben, jemals Königin zu werden. Das ist auf jeden Fall meine Meinung.«
Diese Ungerechtigkeit brannte wie Feuer. »Warum schickt der König dann nicht nach ihr?«
Andor seufzte und setzte sich bequemer hin. »Sagorn sagt, er weigert sich zuzugeben, daß er so krank ist. Er kann keine Nahrung bei sich behalten, hat ständig Schmerzen – aber er gibt es nicht zu. Außerdem weigert er sich, das Leben von Männern aufs Spiel zu setzen. Was dumm von ihm ist, weil die Hälfte der Männer in der Stadt sich freiwillig melden würde. Aber er hat jegliche Expeditionen verboten.«
Arme Inos!
»Ist das der wahre Grund, warum du fortgehst, Andor? Um es ihr zu sagen?«
Im Halbdunkel waren Andors Zähne zu erkennen. »Das hat nichts mit mir zu tun, Bürschchen.«
Wieder Stille, dann sagte er ruhig: »Aber wir könnten zusammen reisen, bis wir die Berge hinter uns haben. Wenn wir erst einmal im Impire sind, ist es einfach, und ich würde dich auf die richtige Straße nach Kinvale bringen. Wir könnten einen Führer anheuern, wenn du willst, aber dort würdest du keine Schwierigkeiten haben.«
Raps Hände zitterten, und er preßte sie in seinem Schoß zusammen. Langes Schweigen…
»Hölzerne Schwerter, Rap? Oder das richtige Leben?«
»Ich habe keine Autorität! Wer würde mir glauben?«
Andor machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten. Inos, natürlich. »Mich selbst berufen? Dem Befehl des Königs widersetzen?« »Wem gilt deine Loyalität, Rap? Dem König oder ihr?«
Dunkelheit und Stille.
»Wenn du wählen müßtest – und jetzt mußt du wählen – wem würde deine Loyalität gelten? Glaubst du nicht, daß Inos in seinen letzten Tagen gerne an seiner Seite wäre?«
Diese Frage brauchte Rap nicht zu beantworten.
Es war verrückt. Die Gründe, die dagegen sprachen, waren erschrekkend. Aber Inos wäre sicher gerne an der Seite ihres Vaters, und sie war seine Freundin – oder wäre es, wenn sie keine Prinzessin wäre. Andor hatte recht, wie üblich. In einem solchen Notfall mußte Rap seinen Mut zeigen, sich selbst seine Männlichkeit beweisen, und Inos seine Lo… Loyalität.
Er erschauerte. Er war sich nicht sicher, was ihm mehr Angst machte, das Wetter oder die Kobolde. Er hatte Kobolde am Hafen herumhängen sehen. Sie waren kurz gewachsene, sehr derbe Menschen mit graubrauner Haut und tiefschwarzem Haar. Sie nannten sich selbst die grünen Männer, und bei bestimmten Lichtverhältnissen zeigte ihre Haut tatsächlich einen grünlichen Ton, wie altes, angelaufenes Messing. Im Sommer liefen sie nur mäßig bekleidet herum, und jedem folgten normalerweise drei oder vier Frauen, die von Kopf bis Fuß verhüllt waren. In allen Geschichten war man sich jedoch einig, daß sie die Folter praktizierten.
Es war ein haarsträubender Gedanke – sich mit Andor auf eine Reise durch diese Kälte zu machen, eine Reise, die Wochen dauern würde. Die Luft selbst konnte schon töten. »Wann?«
»Jetzt.« Andor lächelte wieder. »Jetzt?«
Er zeigte auf das Fenster, das inzwischen heller schimmerte. »Der Mond geht auf. Alle
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