Days of Blood and Starlight
Thiagos Ansicht zweifellos ihre Schuld war –, aber hatte er wirklich alles andere aufgegeben?
»Du hast dich bestimmt noch nicht richtig ausgeruht«, sagte Zuzana. »Du kannst hier neben uns schlafen. Ich rutsch rüber.«
Karou schüttelte den Kopf. »Macht es euch ruhig gemütlich. Ich kann sowieso nicht mehr schlafen.«
In ihrem Kopf drehte sich alles. Was jetzt? Was jetzt? »Ich glaube, ich gehe noch ein bisschen spazieren, solange es noch einigermaßen kühl ist. Wenn der Morgen kommt, muss ich mich wieder an die Arbeit machen.« Zuzanas Gesicht hellte sich auf, und Karou musste unwillkürlich grinsen. »Ja, Igor. Du darfst helfen. Und danke für vorhin. Du warst spitze.«
» Ich? Du warst spitze. Heilige Scheiße. Karou. Du bist mein Held.«
»Ach ja? Tja, du bist meiner, also sind wir wohl quitt.«
Auch wenn es ganz danach aussah, war Mik noch nicht eingeschlafen. Jetzt hob er den Kopf, um zu protestieren: »Hey, ich will auch ein Held sein!«
»Oh, das bist du«, versicherte Zuzana ihm, warf sich auf ihn und drückte ihm einen dicken, lauten Schmatzer auf die Wange. »Mein Märchenheld! Eine Prüfung hast du schon bestanden, jetzt fehlen nur noch zwei.« Karou zog sich leise zurück, als Zuzana sich daranmachte, Miks ganzes Gesicht mit Küssen zu bedecken.
Wiedererkennen
Karou hatte angenommen, Ten würde vor ihrer Tür warten und ihr folgen, aber die Wölfin dachte wohl, dass sie heute Nacht bei ihren Freunden bleiben würde, denn sie ließ sich nicht blicken.
Freudig überrascht von ihrer unerwarteten Freiheit, schlenderte Karou leise zum hinteren Tor der Kasbah und dann durch die schmalen Gassen des verfallenen Dorfs, immer begleitet vom Geräusch der umherhuschenden Ratten. Mehrmals musste sie sich in die Luft erheben und über eingebrochene Mauern und andere Hindernisse hinwegfliegen, achtete aber stets darauf, dass sie unter den Dächern und außer Sicht des Wachturms blieb. Endlich hatte sie einen Augenblick für sich, und sie wollte ihn nicht aufs Spiel setzen.
Ein- oder zweimal hatte sie das Gefühl, dass sie verfolgt wurde, und schaute sich um, konnte aber keinen schleichenden Wolf in den Schatten entdecken. Dann sah sie plötzlich etwas Weißes aufblitzen und befürchtete schon, es wäre Thiago höchstpersönlich, aber es waren nur seine Kleider, die zum Trocknen an einem Dach hingen. Karou atmete auf. Der Weiße Wolf war wirklich die letzte Person, die sie jetzt sehen wollte.
Na ja, vielleicht nicht die allerletzte. Diese Position blieb Akiva vorbehalten, aber wenigstens in dieser Hinsicht bestand keine Gefahr. Akiva war weit weg beim Fernmassiv, und was zur Hölle hatte er vor? Hatte er Ziri wirklich gerettet? Die Beweise waren allenfalls dürftig.
Eine tote Kolibrimotte.
Erinnerungen an ihr Leben als Madrigal regten sich tief in ihrem Inneren: das Gefühl des lebenden Schultertuchs, das Akiva ihr auf dem Maskenball des Kriegsherrn geschenkt hatte, die sanfte Berührung der weichen, pelzigen Flügel und dann das leichte Kitzeln, als die kleinen Kreaturen den Zucker gefressen hatten, der ihr Dekolleté, ihre Schultern und ihren Hals bedeckte. Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, schämte sie sich für diesen Zucker – dass er für Thiago bestimmt gewesen war, und dass sie sich damit hatte bestäuben lassen, ohne sich einzugestehen, dass sie bereit war, sich ihm hinzugeben, sich von ihm … schmecken zu lassen. Sie schauderte bei der Vorstellung seiner scharfen Fangzähne an ihrer nackten Haut.
Stattdessen waren es Kolibrimotten gewesen, die sie geschmeckt hatten, und später … ein Engel.
Wie sonderbar und grausam das Leben doch war. Wenn ihr an jenem lange zurückliegenden Morgen jemand zugeflüstert hätte, dass sie bei Anbruch der Nacht in den Armen des Feindes liegen würde – und dort liegen wollte –, hätte sie laut gelacht. Aber als es passierte, hatte es sich so natürlich und richtig angefühlt wie die Schritte eines Tanzes, den sie schon ihr Leben lang kannte.
Jetzt fragte sie sich: Was, wenn Akiva niemals nach Loramendi gekommen wäre, mit seinen wunderschönen, erstaunlichen Worten – Liebe ist ein Element –, seiner sanften Berührung und süßen Magie, seiner Leidenschaft, seinem Humor, seinen feurigen Augen – hätte sie dann nie einen anderen Verehrer als Thiago gekannt?
Hätte sie einfach zugelassen, dass er sie eroberte, dass er sie schmeckte und in Besitz nahm? Sie wollte gerne glauben, dass sie auch ohne Akiva wieder zur Besinnung gekommen
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