Dead End: Thriller (German Edition)
verschrieben. Amitriptylin, damit ich besser schlafe. Das hat ein paar Tage geholfen, aber seitdem wird es immer schlimmer.«
»Was sagt er dazu?«
Ein Haufen verwehtes Laub lag auf dem Weg. Ein paar der Blätter blieben in den Speichen des Rollstuhls hängen und veränderten das Geräusch, das er beim Fahren machte.
»Er hat Mitleid mit mir«, antwortete Evi, »aber wir wissen beide, dass er außer Schmerzbekämpfung nichts für mich tun kann.«
»Hast du starke Schmerzen?«
Evi holte tief Luft, das war seit ihrer Kindheit ihre Spezialmethode, um Tränen zurückzuhalten. »Sie gehen nie weg«, sagte sie. »Den ganzen Tag tut es weh. Wenn ich nachts aufwache, sind die Schmerzen das Erste, woran ich denke. Aber wenn ich was Stärkeres nehme, bin ich wie ein Zombie. Ich bin doch erst vierunddreißig, Meg. Wie soll ich denn die nächsten vierzig Jahre überstehen?«
Megan hörte auf zu schieben, trat um den Rollstuhl herum und hockte sich vor Evi hin. Sie ergriff ihre Hände und zwang ihre Freundin, sie anzusehen. Ein näher kommendes Paar machte sich nicht die Mühe, seine erstaunten Blicke zu verbergen.
»Evi, du musst dir freinehmen«, sagte Megan. »Du bist nicht arbeitsfähig.«
Megans Gesicht war zu einem verschwommenen Schemen geworden. »Ich mache doch im Augenblick so gut wie keine stationären Behandlungen«, widersprach Evi. »Um meine Patienten brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
Sie fühlte, wie ihre Hände gedrückt wurden. »Du bist diejenige, um die ich mir Sorgen mache«, erwiderte Megan.
»Ich weiß. Aber wenn ich jetzt aufhöre zu arbeiten, fange ich vielleicht nie wieder an.«
Megan richtete sich wieder auf und trat von Neuem hinter den Rollstuhl.
»Ich höre auch Stimmen, habe ich das schon erwähnt?«, fuhr Evi fort, während Megan wendete und sich auf den Rückweg zum St. John’s College machte. »In der Nacht, im Halbschlaf.«
»Was sagen sie?«
»Sie sagen Evi fällt .«
Der Rollstuhl wurde einen Moment lang langsamer, dann nahm er wieder Fahrt auf. »Evi fällt?«, wiederholte Megan.
»Davor habe ich am meisten Angst. Vorm Fallen. Durch einen Sturz bin ich ja überhaupt erst so geworden. Und dann bin ich letztes Jahr wieder gefallen und dabei fast draufgegangen. So stelle ich mir meinen Tod vor, durch einen Fall aus großer Höhe. Meg, was passiert mit mir?«
Wieder hielt der Stuhl abrupt an, und ein tiefer Seufzer ertönte hinter ihr. »Evi, ich möchte deine Erlaubnis, mit Nick über dich zu sprechen. Ich kann nicht …«
»Weißt du, wie sich das anfühlt?« Evi drehte sich in ihrem Rollstuhl zu Megan um. »Es fühlt sich an, als wäre jemand in meinem Kopf gewesen, hätte dort rumgekramt und all die Sachen gefunden, vor denen ich am meisten Angst habe, und jetzt benutzt er dieses Wissen, um mich in den Wahnsinn zu treiben.«
Keine Antwort. Nur ein betrübter Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Psychiaterin.
»Nur«, sagte Evi, »der Einzige in meinem Kopf bin ich.«
33
An diesem Tag verwandelte ich mich in eine richtige Psychologiestudentin. Ich besuchte meine erste Vorlesung, saß ganz hinten in dem riesigen Hörsaal, hörte zu, wie ein Mann in roten Cordhosen über etwas namens Hawthorne-Effekt redete, und tat so, als würde ich Notizen in meinen Laptop tippen. In Wirklichkeit surfte ich. Dr. Oliver hatte von der destruktiven Subkultur gesprochen, die sich hauptsächlich im Internet manifestierte. Eine virtuelle Welt, die den Suizidakt legitimierte und sogar glorifizierte. Danach suchte ich.
Lange dauerte es nicht. Wenn man Begriffe wie Selbstmord-Websites, Online-Selbstmord oder Selbstmordpakt in eine Suchmaschine eingibt, wird man von Ergebnissen geradezu überschwemmt. Ich fing an, alte Zeitungsberichte zu lesen; ich wollte ein wenig mehr über das spezifische Vorkommen von Suiziden unter Leuten wissen, die neu im Universitätsumfeld waren, besonders an Unis, die als weltweit führende akademische Einrichtungen galten. Die meisten Online-Ausgaben der überregionalen Zeitungen hatten zu diesem Thema etwas zu sagen, und ich las Berichte von Studenten, die Jahre zielstrebigen Lernens und herausragender schulischer Leistungen an einen Ort gebracht hatten, der sie völlig überforderte. Diese klugen jungen Menschen sprachen von den enorm hohen Ansprüchen, denen sie gerecht werden mussten, von dem Druck, der sich in ihrem Innern langsam und unerbittlich aufgebaut hatte. Sie sprachen von blinder Panik, die sie überkommen hatte, als sie sich anschickten, zum ersten
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