Decker & Lazarus 05 - Du sollst nicht luegen
tödliche Verstümmelungen zu, wie Kastration, Entfernen der inneren Organe oder Amputation. Ganz zu schweigen von entsetzlichen Tierquälereien. Wenn die Moral erst mal so stark beschädigt ist, bleibt die Ethik für immer auf der Strecke. Diese hedonistischen Rituale stehen nicht nur in absolutem Widerspruch zur Torah, sondern auch zu den Noachidischen Gesetzen.« Dem alten Mann trat ein Funkeln in die Augen. »Als da sind …«
Decker lächelte.
»Ich kann eben aus meiner Lehrerrolle nicht heraus, Akiva«, sagte Schulman. »Zählen Sie sie für mich auf.«
Decker nannte die sieben Gesetze – die sechs Verbote gegen Blasphemie, Götzenverehrung, Mord, Ehebruch, Diebstahl und gegen das Essen und Trinken von Blut lebender Tiere sowie das Gebot, ein Rechtssystem zu schaffen. Gesetze, durch göttliche Offenbarung nach der Sintflut an die Menschheit übermittelt.
»Sehr gut«, sagte Schulman. »Die Kommentare lehren uns, daß man nicht unbedingt Jude sein muß, um an der künftigen Welt teilzuhaben. Aber man muß die Noachidischen Gesetze befolgen. Deshalb stellen die anderen Religionen keine Beleidigung gegen Haschem dar – ganz im Gegenteil. Es gibt einen Platz für alle rechtschaffenen Menschen. Aber nicht für Heiden, die foltern.«
Decker dachte einen Augenblick über die Noachidischen Gesetze nach.
»Wissen Sie, Rabbi, mir geht gerade durch den Kopf, daß diese Gesetze das polare Gegenstück zur Teufelsanbetung sind. Anhänger des Satanskults müssen ihre Regeln formuliert haben, indem sie die Antithese der Noachidischen Gesetze gebildet haben.« Er lachte. »Nicht gerade eine welterschütternde Beobachtung.«
»Aber eine richtige, Akiva. Satan ist das polare Gegenteil von Haschem. Ist Ihre verführerische Lady zufälligerweise eine Anhängerin des Satanskults?«
»Dafür gibt es keine Anzeichen, aber genau wissen tue ich es nicht. Vielleicht gehört sie tatsächlich irgendeinem verrückten Kult an, und irgendein Wahnsinniger will aus ihr ein Menschenopfer machen. Das halte ich allerdings für weit hergeholt. Trotzdem …«
»Darf ich, während Sie Ihren kühnen Spekulationen anhängen, noch etwas anderes zu bedenken geben?«
»Aber sicher.«
»Vielleicht hat irgendein verblendetes Hirn die biblischen Worte ›Laßt keine Zauberin leben‹ wörtlich genommen. Vielleicht gibt es irgendeinen durchgedrehten Fanatiker, den sie kennt und der Stimmen hört, die ihm befehlen, eine furchtbare Tat zu begehen – oder irgendeine durchgedrehte Fanatikerin.«
Decker ging die Verdächtigen durch. Keiner von ihnen erschien ihm geisteskrank. Aber wie sollte man wissen, was die sich insgeheim zurechtspannen.
»Das wäre nicht das erste Mal, Rabbi. Ich werde darüber nachdenken.«
Schulman strich über seinen Bart und nickte ernst. »Akiva, ich weiß, daß Sie eine gewisse Verantwortung den Leuten gegenüber haben, deren Fall Sie bearbeiten. Ich möchte ja nichts gegen diese Lady sagen. Ich kenne sie noch nicht einmal. Aber falsche Prophetinnen sind heimtückisch. Nehmen Sie sich in acht – sowohl physisch als auch psychisch.«
»Ich nehme mich bei der Arbeit immer in acht, Rabbi.«
Schulman tätschelte Deckers Hand. »Das ist gut.« Dann hielt er nachdenklich inne. »Diese merkwürdige Sache mit den Kristallkugeln, Akiva. Was machen die Leute damit? Sprechen sie zu ihnen und warten auf eine Antwort? Oder halten sie sie in die Sonne, um ihr Gesicht zu bräunen? Was machen die damit?«
»Ich bin zwar kein Fachmann für Kristallkugeln, Rav Schulman, aber ich glaube, die werden benutzt, um Kontakt mit den Toten aufzunehmen.«
Der alte Mann schüttelte mißbilligend den Kopf. »Diese Faszination für den Tod werd ich nie begreifen.«
»Wir müssen alle sterben.«
»Ja, das stimmt, aber erstmal leben wir. Die Leute sollten sich darauf konzentrieren, ihr Leben zu verbessern, statt herauszukriegen versuchen, was auf der anderen Seite ist. Wenn sie ihr Leben rechtschaffen führen, haben sie nichts zu befürchten. Boruch Haschem, daß ich’s bis hierher geschafft habe. Nun könnte man allerdings sagen, daß ich bereits mit einem Fuß im Grabe stehe …«
»Rabbi …«
»Nicht daß ich bereit bin zu sterben.« Der alte Mann stand auf und holte zwei Schnapsgläser. »Aber wenn es passiert, dann passiert’s. Leute, die den Tod fürchten, haben keine Ehrfurcht vor Gott. Außerdem, Akiva, was lehren uns die Weisen über die Torah?«
»Daß sie für die Lebenden bestimmt ist, und nicht für die Toten.«
»Richtig!«
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