Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
vertrauen.
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Die Frau hatte Macht. Rina sah, wie sie von Sicherheitsleuten ganz vorn an die Spitze der Schlange geführt wurde, und dann wurde die Überprüfungsprozedur zwar nicht ganz unterlassen, aber sie schien immerhin verkürzt. Milligan verließ das Gebäude in Rekordzeit, und Rina trat in einer Schlange aus lauter gereizten Arbeitstieren ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte in diesem Moment zwei Möglichkeiten – entweder sie gab die Jagd auf, oder sie versuchte ihr Glück am Schalter vorne mit einem Rührstück.
Es war ihr Vorteil, daß die Israelis Herzen aus Gold haben. Wer wollte es wagen, eine Mutter daran zu hindern, schnell davonzueilen, um ihr krankes Baby vom Babysitter abzuholen? Nachdem sie hastig bis zum Schalter durchgeschoben worden war, legte Rina die nötigen Schildchen und Papiere vor, nahm ihren Paß in Empfang und stürzte zur Tür hinaus. Sie kam gerade noch rechtzeitig auf dem Parkgelände an, um zu sehen, wie Milligan einen Volvo Sedan aufschloß, der drei Reihen weiter von Rinas Mietwagen stand.
Rina lächelte. Ein Volvo 740 war hier in der Gegend eine Seltenheit. Es würde spielend leicht sein, diesem Wagen zu folgen, der in einem Land der Kleinwagen sofort ins Auge fiel. Schnell ließ sie sich auf den Fahrersitz ihres winzigen Subaru gleiten und ließ den Motor an. Der Volvo fuhr los, und Rina tat das gleiche und folgte Milligan auf die Auffahrt zur Ayaion. Sie fuhren in südöstlicher Richtung auf Jerusalem zu.
Als sie erst einmal sicher auf dem Freeway war und in angenehmem Tempo vor sich hin fuhr, fühlte Rina sich Milligan bei ihrer Verfolgung ein wenig überlegen. Jerusalem war bekanntes Gelände für sie, denn schließlich hatte sie mehrere Jahre lang in der Gegend gelebt. Sicher, die Goldene Stadt hatte sich verändert, war größer und moderner geworden, aber im Vergleich mit Los Angeles war sie immer noch winzig.
Rina stellte das Radio an, hebräische Sätze tönten aus dem Lautsprecher. Eine Talkshow – das war nicht weniger stumpfsinnig als in den Staaten. Sie stellte einen der vielen arabischen Sender ein, und schon klangen ihr die modalen Oktaven der einheimischen Musik ins Ohr. Traditionelle arabische Lieder waren wie Geschichten-Erzählen: Sie konnten Stunden so weitergehen. Ihr reichten etwa zwei Minuten davon. Sie wechselte wieder den Sender. Diesmal erwischte sie moderne Rockmusik. Pearl Jam hatte es an den Jordan geschafft.
Nachdem sie etwa zwanzig Minuten lang an ausgedehnten, von den Bergen in der Ferne überragten Feldern vorbeigefahren war, spürte Rina, wie die Luft kühler wurde. Zehn Minuten später rückten die Berge immer näher heran, und die Straße wurde zu einem schmalen, in den Felsen geschlagenen Band. Wegen der vielen Kurven konnte man nicht sehen, ob jemand entgegenkam, aber das hinderte die Israelis nicht daran, sich auf die Hupe zu legen und großzügig an anderen Fahrzeugen vorbeizuziehen, die für ihren Geschmack zu langsam fuhren. Was ist schon ein kleiner Frontalzusammenstoß unter Freunden?
Die israelischen Fahrer trieben Rina zur Verzweiflung. Im einen Moment hatte sie den Volvo genau im Blickfeld, und im nächsten drückte schon wieder einer von diesen unerträglichen Möchtegernrennfahrern auf seine Hupe und raste an ihr vorbei. Zum Glück schien Milligan es nicht eilig zu haben.
Je weiter die Straße anstieg, desto intensiver wurde das Grün an den Hängen und der Geruch von Pinien. Mit den letzten Kurven schließlich rückte eine breite Wand aus Gold schimmerndem Felsgestein ins Blickfeld. Am Berghang waren Felsbrocken zu hebräischen Lettern arrangiert. B’ruchim Habayim le Yerushalim – Willkommen in Jerusalem!
Rina fühlte, wie ihr Herz raste, ihr ganzer Körper schien von Vergeistigung erfüllt und fing an zu kribbeln. Ebenso magisch, wie sie diese Aura jedes Mal umfing, wann immer sie die Heilige Stadt betrat – ihre persönliche Aliya –, so strömte sie auch wieder aus ihr heraus, sobald sie sie verließ – ihre persönliche feride. feride – der Verfall. Israelis, die aus dem Heiligen Land emigrierten, wurden Jordim genannt, weil sie ihr spirituelles Gleichgewicht aufgegeben hatten.
In diesem Moment konnte Rina sich nicht vorstellen, daß sie je wieder fortgehen würde. Sie war wie trunken von der Sonne, die ihre Strahlen über die Stadt gleiten ließ. Das Urgestein Jerusalems, wohin ihr Auge fiel. Alles war aus diesem rotgoldenen Kalkstein gebaut – die Häuser und Wege, selbst einige
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