Dein bis in den Tod
sagte: »Sie sind leer.«
Ihr Blick wurde melancholisch. »Alle?«
»Alle.«
Dann lächelte sie ein erlösendes Lächeln, streckte die freie Hand hinter ihren Rücken und wühlte zwischen den Sofakissen herum. Sie wurde fündig und die Hand kam mit einer ungeöffneten Wodkaflasche der gleichen Marke wie beim letzten Mal wieder hervor.
»Wer suchet, der findet«, sagte sie. Mit erfahrenen Fingern öffnete sie die Flasche und setzte sie zu einer schnellen Geschmacksprobe an den Mund, bevor sie sie mir über den Tisch reichte.
Ich nahm sie entgegen und stellte sie ab. Möglicherweise war sie eine praktische Geisel, für den Fall, dass sie nicht reden wollte.
»Hast du keinen Durst?«, fragte sie ungläubig – als sei es unmöglich, ständig keinen Durst zu haben.
Ich sagte: »Im Moment nicht. Ich fahre, immer noch.«
Sie sagte: »Aber was zum Teufel willste dann?« Sie zeigte mir noch ein breites Grinsen. »Ja, denn ich geh davon aus, dass du nicht wegen ’ner Nummer gekommen bist?« Sie schlug die Arme auseinander wie eine übergewichtige Robbe mit den Flossen schlägt und verharrte so, als offene Einladung.
Ich sagte: »Ich hab da nur noch eine Frage.«
»Ja?«
»Als du letztens von Johans Vater gesprochen hast, ich glaube, da warst du nicht ganz ehrlich, oder?«
Ihr Blick ging über Kreuz. »War ich nicht?«, sagte sie, als würde sie sich überhaupt nicht daran erinnern, dass wir über so was gesprochen hatten.
»Nein. Nicht ganz. Du hast zum Beispiel gesagt, er würde jeden Monat Geld schicken, und das tut er vielleicht auch, aber du hast nicht gesagt, dass er regelmäßig zu Besuch kommt.«
»Naja, ich …« Es ist nicht leicht zu lügen, wenn man hingegossen auf einem Sofa liegt und der Wodka unverbrannt in einem herumschwappt. »Ich – das – ich fand – das geht dich nichts an.«
»Nein. Vielleicht nicht. Aber vielleicht doch. Er kommt also hierher, wie oft? Einmal im Monat?«
Sie zuckte mit den Schultern und nickte gleichzeitig.
»Jeden zweiten Monat?«
Sie nickte, etwas schief diesmal.
»Und es kommt wohl auch vor, dass Johan ihm begegnet, oder? Denn er kommt ja, um ihn zu sehen, stimmt’s? Um zu sehen, wie es ihm geht?«
Sie nickte wieder.
»Aber Johan glaubt, er sei nur einer von deinen gewöhnlichen Kavalieren? Du hast ihn seinen Vater treffen lassen, immer wieder, all die Jahre, aber du hast nie den Mut gehabt, ihm zu erzählen, dass das sein Vater ist?«
»Nein«, flüsterte sie heiser. »Irgendwie ging …«
»… ihn das nichts an? Sein eigener Vater?«
»Es war nicht sein eigener Vater – nicht, nachdem er mich so verlassen hatte. Er – er hätte seine Frau verlassen können und mich nicht allein sitzen lassen mit – der Schande. Es war nicht so, wie ich es dir beim letzten Mal erzählt habe, Veum. Es war nicht so, wie ich es allen erzählt habe, die mich gefragt haben.«
Mit einer Bewegung, die wie eine sportliche Leistung wirkte, setzte sie sich im Sofa auf. So blieb sie aufrecht sitzen, mit beiden Händen auf den Knien und dem großen Kopf zwischen den Schultern schaukelnd. Sie fuhr fort: »Ich werde es dir erzählen. Du bist ein – netter Kerl – ich werde dir die Wahrheit erzählen über … Denn es war keine Zufallsbekanntschaft aus der Tanzbar. Es war – die einzige wirkliche Liebesbeziehung, die ich je hatte. Die Einzige, an die ich mich immer noch erinnere, sodass es mich schüttelt, die Einzige, die mich immer noch nachts aufwachen lässt, wenn ich von ihm geträumt habe. Aber ich habe ihn geliebt, Veum, und er – er hat mir nicht erzählt, dass er verheiratet war. Er nahm seinen Ring ab, bevor wir uns trafen, und wir – ich habe ihm alles geglaubt, bis – bis ich mit Johan schwanger wurde … Und da erzählte er mir alles: Dass er verheiratet war, dass seine Frau auch schwanger war – und dass wir … Er wollte mir helfen, sagte er, aber er konnte mich nicht heiraten.
Und ich – ich habe ihn geliebt. Ich habe ihn so sehr geliebt, dass ich nicht Nein sagen konnte, zu gar nichts. Also ließ ich ihn sich seine Freiheit erkaufen, wenn man das so nennen kann. Ich ließ ihn mir diese Wohnung kaufen – und die, in der ich vorher gewohnt habe. Ich ließ ihn Johans Unterhalt bezahlen, seine Ausbildung, ich ließ ihn sogar zu Besuch kommen, um seinen Jungen zu sehen. Er ist gekommen, all die Jahre, seit Johan ein halbes Jahr alt war, bis heute.«
»Und ihr habt Johan so aufwachsen lassen, ohne auf wichtigste Fragen in seinem Leben zu antworten, ohne ihm
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